Jetzt tanzte sie einen letzten Reigen über den Dächern der St. Paul’s Cathedral, während über ihr die blassblauen Sterne zu ihr hinabblickten wie Glitzersteine an einem Samtvorhang. Anmutig drehte sie sich hoch oben in der Luft wie eine graziöse Tänzerin in einer Ballettaufführung. Ihre schwarzen Locken folgten den sanften Bewegungen ihrer Kreise. Sie trug ihr perlweißes Spitzenkleid, das an den Hüften glockenförmig auseinanderging und kurz unterhalb ihrer Knie aufhörte. Freya genoss die kühle Nachtluft auf ihrer Porzellanhaut. Sie fror nicht, allgemein tat ihre Spezies das nicht. Viktors Tochter liebte es, wie ihre Flügel die Luft beiseite drängten, sie sich fallen lassen konnte und im letzten Moment ihren Rettungsschirm aufspannte, der sie wie eine Feder im Wind gleiten ließ. Freyas Flügel waren ebenso missgestaltet wie die der anderen Gargoyles. Ledern, an den Ecken zerfressen, als hätte ein Nagetier daran gekaut und zwischen drin spannte sich ein scharlachrotes Netzwerk aus kleinen Äderchen auf. Es ruinierte jedes Mal das Gesamtbild. Und wäre sie nicht mit makelloser Schönheit gesegnet gewesen, hätte man sie in der Tat für einen von Gott gesandten Engel gehalten. Anders als Ash empfand Freya beim Anblick ihrer dämonengleichen Flügel keine Abstoßung. Sie war, wie sie war, daran konnte sie nichts ändern. Auch eine lächerliche Prophezeiung konnte daran nichts ändern. Und Freya hatte keine Zeit, einer sinnlosen Legende hinterherzujagen oder sich über ihren größten Makel zu sorgen. Sie ignorierte die Zeichnung durch des Teufels Hand, die auf ihrem Rücken mit ihr verbunden war wie siamesische Zwillinge. Stattdessen suchte sie die Freiheit, die ihr Vater ihr verwehren wollte. Regelmäßig widersetzte sie sich Viktor. Bei der St. Paul’s Cathedral war sie ebenso sicher wie bei Westminster Abbey. Viktor zog es allerdings vor, sie in seiner Nähe zu wissen. Freya erkannte es nicht als väterliche Fürsorge an, sondern als eine Art Kontrollzwang. Nicht sie war schuld an der Misere, aber Viktor und er wiederum ließ Ash dafür bezahlen. Etwas an Westminster störte sie. Sie wusste nicht, ob es der Geruch war, die Menschen, die dort vorbeikamen und die sie manchmal schon beobachtet hatte. Oder die vielen Gräber von berühmten Persönlichkeiten wie Heinrich dem Dritten, Charles Dickens, Georg Friedrich Händel und nicht zu vergessen dem Denkmal für William Shakespeare. Bei dem Anblick der Begräbnisstätten und selbst dem Gedanken daran bekam sie das Fürchten. Also war einer ihrer liebsten Zufluchtsorte seit jeher derselbe. Freya zog ihre Flügel ein und ließ sich wie ein Adler im Sturzflug nach unten fallen. Wie ein Segelschirm öffneten sich ihre ledernen Flügel, die wie die eines Drachen aussahen, rot und schwarz gefärbt waren und fingen sie in letzter Sekunde auf. Sie landete auf dem kuppelförmigen Dach der Kathedrale, faltete ihren Rettungsschirm ein und stieg die Treppen hinab in die Kirche.
Alex Lane saß in seiner viel zu kleinen Studentenwohnung. Hier hatte er nicht einmal genügend Platz für einen Fernseher, geschweige denn für ein Bücherregal. Das Zimmer bestand nur aus einem Bett, einem Schreibtisch mit einem Stuhl und einem Fenster, das auf eine Hausmauer zeigte. Als er vor zwei Jahren von Salem nach London gezogen war, um Kunst und Kunsthistorie zu studieren, hatten seine Ersparnisse nicht für mehr ausgereicht. Alex Mutter Judith war im Alter von vierzig zur Witwe geworden, als er achtzehn und sein Bruder Hamilton sechzehn gewesen waren. Jetzt war er zweiundzwanzig, sein Vater seit vier Jahren unter der Erde und sein Bruder immer noch ein Nichtsnutz. Judith hatte Alex zum Abschied 100 Dollar zugesteckt, für ihre Verhältnisse sehr viel. Das Geld war im Nu aufgebraucht. Alex war zwar kein Prolet, der mit Asche um sich warf und alle seine Freunde in der Bar auf eine Runde einlud. Aber das Leben war teuer und Judith hatte ihrem Sohn auch keine weitere finanzielle Unterstützung zukommen lassen. Sie hätte es können, wenn sie einen guten Job gehabt hätte. Aber sie arbeitete in McFry’s Frittenbude an der 45. Eine fiese Absteige, die bekannt dafür war, ihr Frittierfett nicht allzu oft zu wechseln und es auch sonst nicht mit der Hygiene hatten. Wo schmierige Typen auf einen mittelmäßigen Burger, zu Tode frittierte Pommes frites, einem geschmacklosen Milchshake und lauwarmen Kaffee vorbeikamen, sich auf die ramponierten Barhocker am Tresen setzten und ihnen der Arsch aus der Hose hing. Und wenn die Tür dieser Spelunke aufflog, stieß einem immer der Geruch aus altem Bratfett und Zigarettenrauch ins Gesicht. Der Betreiber, genannt Jon Hugh, war ein widerliches Arschloch, ein fetter Kerl, dessen von Burgern und Speck geschwängerter Ranzen über die zu eng zugezogene Hose baumelte wie ein zwanzig Kilo schwerer Sack Kartoffeln. Er zahlte nicht annähernd so viel, wie er eigentlich hätte sollen. Aber Judith und ihre Kolleginnen waren froh, überhaupt einen Job zu haben bei ihren Qualifikationen. Nachdem Paul, Alex und Hamiltons Vater, von ihnen gegangen war, hatte die Frau plötzlich für die Familie sorgen müssen. Sie hatte keinen Schulabschluss, hatte mit vierzehn die Schule geschmissen und sich durchs Leben geboxt. Dann war sie Paul begegnet und er hatte sie gezähmt. Hatte sie von ihrem Trip heruntergeholt. Er hatte sie auf Händen getragen und ihr versprochen, für immer und ewig für sie zu sorgen. Ein Versprechen bedeutet nichts, wenn sich der Allmächtige dazu entschließt, einen rechtschaffenen Bürger zu sich zu holen. Judith hätte wieder arbeiten gehen können, nachdem ihre beiden Jungs groß genug gewesen waren. Aber sie war faul, sie war faul und Pauls Einkommen war immer genug gewesen. Alex Bruder Hamilton war ganz nach seiner Mutter gekommen, während er in die Fußstapfen seines Vaters getreten war. Schlau, zielstrebig, mit Stolz hatte Judith den Werdegang ihres ältesten Sohnes verfolgt, wie er seinen Collegeabschluss mit Bestnoten gemacht und vor zwei Jahren die Zusage für die Aufnahme an der Uni bekommen hatte. Sie war besorgt gewesen, Alex hatte zwar ein Stipendium erhalten, aber es deckte nicht sämtliche Kosten. Ihr Sohn hatte sich durch Ferienjobs und andere Tätigkeiten in der Nachbarschaft ein kleines finanzielles Polster geschaffen. Tja, die Realität hatte ihn hart getroffen wie ein Schläger einen Baseball. Von Luxus konnte er nur träumen. Und Kunst? Warum musste es ausgerechnet Kunst sein, hatte Judy sich gedacht. Warum konnte er nicht ein Studium beginnen, von dem er später gut leben konnte, wie beispielsweise ein Medizinstudium? Sein Bruder hatte ihn damit aufgezogen, was für eine Schwuchtel er doch sei, etwas wie Kunst zu studieren.
„Das ist was für Schwanzlutscher, hälst du dich für was Besseres?“
Was Karriere und Zukunftspläne betraf, war Hamilton ebenso ein Versager wie seine Mutter, nur das diese wenigstens einen Job hatte, wenn auch gezwungenermaßen. Alex Bruder war von der Schule aufgrund schlechten Benehmens, den andauernden Verwarnungen und ständigen Raufereien mit seinen Mitschülern geflogen. Des Öfteren war er mit der Polizei in Berührung gekommen, hatte die eine oder andere Nacht in der Ausnüchterungszelle verbracht. Er war der Schandfleck und der Dorn in Pauls Auge, der es aufgegeben hatte, sich mit ihm abzumühen und sich stattdessen auf Alex konzentrierte. Er nahm ihn zu sich, wenn er in seiner kleinen Werkstatt hinter dem Haus werkelte, hämmerte und zimmerte. Es war sein Zufluchtsort vor der Realität, dort konnte Paul seiner künstlerischen Ader freien Lauf lassen. Alex hatte nie verstanden, was sein Dad an seiner Mom fand und sie geheiratet hatte, immerhin konnten sie nicht unterschiedlicher sein. Bis er herausfand, dass er der Grund gewesen war. Judith war ungeplant von Paul schwanger geworden und hatte ihm so gehörig die Suppe versalzen. Pauls Ehre bedeutete ihm allerdings zu viel, deshalb war er bei ihr geblieben und hatte sie geehelicht. Als Hamilton dann zur Welt kam wurde alles nur noch schlimmer, bis Paul vor Kummer erkrankte und starb. Nach dem Tod ihres Mannes musste Judith die Zügel in die Hand nehmen und ihr jüngstes Kind war ihr dabei keine Hilfe gewesen. Im Gegenteil, manchmal stahl er seiner Mutter das letzte bisschen Geld und versoff es. Wenn Arbeiten am Haus entstanden, sie mal wieder pleite war, fand Judith eine andere Lösung, ihre Schulden zu begleichen, indem sie ihre Beine breitmachte. Schon bald hieß es in Salem, im Hause Lane würde eine Hure hausen und sie würden ihr die rote Laterne vor die Tür hängen. Ein weiterer Grund für Alex, aus Salem abzuhauen. London war anders als seine Heimat. Die Stadt gefiel ihm richtig gut, nicht zuletzt, weil es dort so vieles an Kunst und Kultur zu entdecken gab. Auch wenn er in dieser mickrigen Pissbude hauste, immerhin hatte er es geschafft und er hatte ein Dach über dem Kopf. Es war hier so vieles besser, er würde fast sagen, er hatte sich in die Metropole verliebt. Und wenn seine Mutter zuweilen anrief oder er sie, was selten vorkam, dann spürte er kein Heimweh.
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