Ulrich hatte sie rasch umfaßt und herausgehoben, denn die am Boden sich wild aufbäumenden und schlagenden Thiere brachten den Wagen immer noch in einige Gefahr. Es waren nur wenige Secunden, während er sie über die Brücke trug, aber während dieser Secunden hefteten sich die dunkeln Augen fest auf den Mann, der sich mit solcher Todesverachtung fast unter die Hufe ihrer Pferde geworfen, und sein Blick streifte das schöne blasse Antlitz, das der Gefahr so muthig Stand gehalten – vielleicht war es dem jungen Bergmann gar zu ungewohnt, auf einmal ein weiches schillerndes Seidengewand im Arme, und sich von dem weißen luftigen Schleier umweht zu fühlen, der über seiner Schulter flatterte, ein Ausdruck der Verwirrung glitt über seine Züge, und hastig, beinahe ungestüm, setzte er die Dame drüben nieder.
Eugenie zitterte noch leise, als ihre Lippen sich zu einem tiefen freien Athemzuge öffneten, das war aber auch das einzige Zeichen der überstandenen Angst.
„Ich – ich danke Ihnen! Sehen Sie nach Herrn Berkow!“
Ulrich, der bereits im Begriff stand, dies zu thun, hielt befremdet inne. „Sehen Sie nach Herrn Berkow“, sagte die junge Frau, in einem Momente, wo jede angstvoll den Namen ihres Mannes gerufen hätte, und sie sagte es sehr kühl, sehr ruhig; eine Ahnung von dem, was die Herren an der Terrasse vorhin so ausführlich besprochen, dämmerte in dem jungen Bergmanne auf, er wandte sich um und ging nach „Herrn Berkow“ zu sehen.
Dieser bedurfte indessen seines Beistandes nicht mehr; er war bereits allein ausgestiegen und herübergekommen. Arthur Berkow hatte auch bei dieser Katastrophe seine passiv gleichgültige Natur nicht verleugnet. Als die Gefahr so unvermuthet hereinbrach und seine junge Gattin Miene machte, aus dem Wagen zu springen, hatte er nur die Hand auf ihren Arm gelegt und leise gesagt: „Bleib’ sitzen, Eugenie! Du bist verloren, wenn Du den Sprung wagst!“ Dann war kein Wort, keine Sylbe weiter zwischen ihnen gewechselt worden, aber während Eugenie aufrecht im Wagen stand, nach Hülfe ausblickend und entschlossen, im letzten Moment dennoch das Aeußerste zu wagen, verharrte Arthur unbeweglich auf seinem Platze; nur als man sich der Brücke näherte, hatte er einen Augenblick lang die Hand über die Augen gelegt, und hätte sich wahrscheinlich mit dem Gefährt zerschellen lassen, wäre nicht gerade im entscheidenden Moment die Hülfe gekommen.
Gegenwärtig stand er am Geländer der Brücke, vielleicht um einen Schein bleicher als gewöhnlich, aber ohne Zittern, ohne jede äußere Spur der Erregung; ob er sie überhaupt nicht empfunden hatte, ob er sie bereits beherrschte – Ulrich mußte sich gestehen, daß in dieser Apathie zum Mindesten etwas Ungewöhnliches liege. Der junge Erbe hatte eben noch dem Tode in’s Auge gesehen und jetzt sah er ihn an, als sei ihm dieser energische Retter aus der Todesgefahr eine unfaßbare Merkwürdigkeit.
Die jetzt ziemlich überflüssige Hülfe kam nun von allen Seiten herbei. Zwanzig Hände regten sich auf einmal, die gestürzten Pferde wieder aufzurichten und dem vor Schreck noch immer halb besinnungslosen Kutscher herabzuhelfen. Der ganze Schwall der Beamten drängte sich herbei und umgab das junge Ehepaar mit Bedauern, Theilnahme und Beileidsbezeigungen aller Art. Man erschöpfte sich in Fragen und Hülfsleistungen, man konnte gar nicht begreifen, wie das Unglück hatte geschehen können, und maß den Schüssen, dem Kutscher und den Pferden abwechselnd die Schuld bei. Arthur ließ das einige Minuten lang völlig passiv über sich ergehen, dann machte er eine abwehrende Bewegung.
„Nicht doch, meine Herren, ich bitte Sie! Sie sehen ja, daß wir Beide unverletzt sind. Lassen Sie uns nur vor allen Dingen nach dem Hause gelangen.“
Er wollte seiner Gattin den Arm reichen, um sie dorthin zu führen, Eugenie aber blieb stehen und blickte umher.
„Und unser Retter? Hoffentlich ist auch ihm nichts geschehen?“
„Ja so, das hätten wir beinahe vergessen!“ sagte der Director etwas beschämt. „Es war ja Hartmann, der die Pferde aufhielt! Hartmann, wo sind Sie?“
Der Gerufene antwortete nicht, aber Wilberg, der in seiner Bewunderung für die romantische That ganz seinen vorherigen Groll gegen den Thäter vergaß, rief eifrig: „Dort drüben steht er!“ und eilte hinüber zu dem jungen Bergmanne, der sofort zurückgetreten war, als die Herren sich herbeidrängten, und jetzt an einem der Bäume seitwärts lehnte.
„Hartmann, Sie sollen – mein Himmel, was ist Ihnen denn? Sie sind ja todtenblaß, und wo kommt denn das Blut her?“
Ulrich kämpfte augenscheinlich mit einem Anfalle von Bewußtlosigkeit, aber dennoch flog ein zorniges Aufleuchten über seine Züge, als der junge Beamte eine Bewegung machte, ihn zu stützen. Empört, daß man ihm so etwas wie eine Ohnmacht zutrauen könne, richtete er sich hastig auf und preßte die geballte Hand fester auf die blutende Stirn.
„Es ist gar nichts! Eine bloße Schramme! Wenn ich nur ein Tuch hätte.“
Wilberg war im Begriff das seinige hervorzuziehen, als plötzlich ein seidenes Gewand dicht neben ihm rauschte. Die junge Frau Berkow stand an seiner Seite und reichte, ohne ein Wort zu sprechen, ihr eigenes, mit kostbaren Spitzen besetztes Taschentuch hin.
Baroneß Windeg mochte wohl noch niemals in die Lage gekommen sein, bei Verwundungen praktische Hülfe zu leisten, sonst hätte sie sich sagen müssen, daß dies winzige, reich gestickte Battisttuch wenig geeignet war, das Blut zu stillen, das, bisher noch durch das dichte blonde Haar etwas zurückgehalten, jetzt mit voller Macht hervorbrach, und Ulrich mußte das besser als sie wissen, dennoch griff er wie unwillkürlich nach dem Dargebotenen.
„Danke, gnädige Frau, aber das nützt uns nicht viel,“ sagte der Schichtmeister, der bereits neben seinem Sohne stand und den Arm um dessen Schulter legte. „Halt’ still, Ulrich!“ damit zog er sein eigenes Taschentuch von derbem Leinen hervor und drückte es auf die dem Anscheine nach ziemlich tiefe Kopfwunde.
„Ist es denn gefährlich?“ fragte Arthur Berkow, der in Begleitung der übrigen Herren jetzt auch herbeikam, in schleppendem Tone.
Mit einem Rucke hatte sich Ulrich von seinem Vater losgemacht und in die Hohe gerichtet, die blauen Augen blickten finsterer als je, als er herb entgegnete:
„Ganz und gar nicht! Es braucht sich Niemand darum zu kümmern, ich helfen mir schon allein.“
Die Worte klangen ziemlich unehrerbietig; indessen der eben geleistete Dienst war doch zu groß, als daß man sie hätte rügen können. Uebrigens schien Herr Berkow froh zu sein, daß die Antwort ihn der Mühe überhob, sich noch weiter um die ganze Angelegenheit zu kümmern.
„Ich werde Ihnen den Arzt senden,“ sagte er in seiner matten gleichgültigen Weise, „und den Dank behalten wir uns noch vor. Für den Augenblick ist ja Hülfe genug da – darf ich bitten, Eugenie?“
Die junge Frau nahm den dargebotenen Arm, aber sie wandte den Kopf noch einmal zurück, wie um sich zu überzeugen, ob die nöthige Hülfe auch wirklich da sei. Es schien fast, als ob die Art, wie ihr Gemahl die Sache behandelte, nicht ihren Beifall habe.
„Unser ganzer Empfang ist verunglückt!“ sagte Wilberg, als er sich einige Minuten später den Herren anschloß, die den Sohn ihres Chefs und dessen Gattin nach dem Hause begleiteten, ganz niedergeschlagen zu dem Ober-Ingenieur.
„Und Ihr Gedicht dazu!“ spöttelte dieser. „Wer denkt jetzt noch an Verse und Blumen? Uebrigens für Jemand, der an Vorbedeutungen glaubt, war dieser erste Empfang in der neuen Heimath gerade nicht glückverheißend. Todesgefahr, Verwundung, Blut – aber das ist ja gerade eine Romantik in Ihrem Style, Wilberg. Sie können eine Ballade darüber dichten, nur müssen Sie diesmal nothgedrungen den Hartmann zum Helden nehmen.“
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