Kaum war sie fort, so schleuderte Reinhold mit einer leidenschaftlichen Bewegung das Hauptbuch zur Seite. Der Blick, der auf den so verächtlich behandelten Gegenstand fiel und dann durch das ganze Comptoir schweifte, zeugte von bitterstem Hasse; dann legte er schwer athmend den Kopf auf beide Arme und schloß die Augen, als wolle er nichts mehr von der ganzen Umgebung sehen und hören.
„Grüß Gott, Reinhold!“ sagte aus einmal eine fremde Stimme dicht neben ihm.
Der Gerufene fuhr empor und blickte verwirrt und fragend den Fremden in Seemannstracht an, der unbemerkt eingetreten war und jetzt vor ihm stand. Auf einmal aber schien ihn eine Erinnerung zu durchblitzen; mit einem Aufschrei der Freude warf er sich an die Brust des Ankömmlings.
„Ist’s möglich, Hugo! Du schon hier?“
Zwei kräftige Arme umschlossen ihn fest und ein paar warme Lippen drückten sich wieder und immer wieder auf die seinigen.
„Kennst Du mich wirklich noch? Ich hätte Dich unter Hunderten herausgefunden. Freilich etwas anders siehst Du aus, als der kleine Reinhold, den ich hier zurückließ. Nun, mit mir mag es wohl auch nicht viel besser sein.“
Die ersten Worte klangen noch in tiefer Bewegung, die letzten hatten schon wieder einen etwas übermüthigen Ton. Reinhold’s Arm lag noch zärtlich um den Hals des Bruders.
„Und Du kommst so plötzlich, so ganz unangemeldet? Ich erwartete Dich erst in Wochen.“
„Wir haben eine ungewöhnlich schnelle Fahrt gehabt,“ sagte der junge Capitain heiter. „Und als ich erst einmal im Hafen war, litt es mich auch nicht eine Minute länger an Bord; ich mußte zu Dir. Gott sei Dank, daß ich Dich allein fand! Ich fürchtete schon, ich müsse das ganze Fegefeuer des heimathlichen Zornes passiren und mich mit der gesammten Verwandtschaft herumschlagen, um zu Dir zu gelangen.“
Reinhold’s Gesicht, das noch in der ganzen Freude des Wiedersehens strahlte, verdüsterte sich bei dieser Erinnerung und sein Arm sank langsam nieder.
„Es hat Dich doch noch Niemand gesehen?“ fragte er. „Du weißt, wie der Onkel gegen Dich gesinnt ist, seit –“
„Seit ich mich seiner hochweisen Bestimmung entzog, die mich durchaus an den Comptoirtisch schrauben wollte, und auf und davon ging?“ unterbrach ihn Hugo. „Ja, das weiß ich, und ich hätte den Lärm mit ansehen mögen, der im Hause losbrach, als sie entdeckten, ich sei durchgegangen. Aber die Geschichte ist ja beinahe zehn Jahre her. Der Taugenichts ist nicht gestorben und verdorben, wie es die verwandtschaftliche Liebe ohne Zweifel hundertmal prophezeit und noch öfter gewünscht hat, er kehrt zurück als höchst respectabler Capitain eines höchst vortrefflichen Schiffes, mit allen nur möglichen Empfehlungen an Eure ersten Handelshäuser. Sollten die maritimen und mercantilischen Vorzüge nicht endlich das Herz des zürnenden Hauses Almbach und Compagnie erweichen?“
Reinhold unterdrückte einen Seufzer. „Spotte nicht, Hugo! Du kennst den Onkel nicht, kennst nicht das Leben in seinem Hause.“
„Nein, ich ging noch zu rechter Zeit durch,“ bekräftigte der Capitain. „Und das ist überhaupt das Gescheidteste – so solltest Du es auch machen.“
„Was fällt Dir ein? Meine Frau, das Kind –“
„Ja so!“ sagte Hugo etwas verlegen. „Ich vergesse immer, daß Du verheirathet bist. Armer Junge, Dich haben sie bei Zeiten festgekettet. Solch ein Traualtar ist der sicherste Riegel, den man allen etwaigen Freiheitsgelüsten vorschiebt. Nun, fahre nur nicht gleich auf! Ich glaube ja gerne, daß man Dich zu dem Jawort nicht geradezu gezwungen hat. Wie Du aber dazu gekommen bist, das wird wohl der Onkel zu verantworten haben, und die melancholische Stellung, in der ich Dich traf, spricht auch nicht gerade sehr für die Glückseligkeit eines jungen Ehemannes. Laß Dir doch einmal in’s Auge blicken, damit ich sehe, wie es drinnen ausschaut!“
Er ergriff ihn ohne Umstände beim Arme und zog ihn nach dem Fenster hin. Erst hier im hellen Tageslichte sah man, wie unendlich ungleich die beiden Brüder waren, trotz einer unleugbaren Aehnlichkeit in ihren Zügen. Der Capitain, der Aeltere von Beiden, war von kräftiger und doch eleganter Gestalt, das hübsche, offene Antlitz gebräunt von Luft und Sonne; sein Haar kräuselte sich leicht, und die braunen Augen sprühten Lebenslust und Lebensmuth. Seine Haltung war leicht und sicher, wie die eines Mannes, der gewohnt ist, sich in den verschiedensten Umgebungen und Verhältnissen zu bewegen, und das ganze Wesen hatte einen Zug kecker, übermüthiger Laune, die bei jeder Gelegenheit hervorbrach, aber zugleich eine so frische, offene Liebenswürdigkeit, daß es schwer war, ihm zu widerstehen.
Der um einige Jahre jüngere Reinhold machte einen durchaus verschiedenen Eindruck. Er war schlanker, bleicher als der Bruder; Haar und Augen waren dunkler, und die letzteren blickten ernst, ja düster. Aber es lag etwas auf dieser Stirn und in diesen Augen, das um so mehr anzog, als sich nicht leicht enträthseln ließ, was sich eigentlich dahinter barg. Hugo war vielleicht der Hübschere von Beiden, und doch entschied eine Vergleichung unbedingt zu Gunsten des jüngeren Bruders, der im vollsten Maße jenen seltenen und gefährlichen Reiz des „Interessantseins“ besaß, dem oft genug die vollendete Schönheit weichen muß.
Der junge Mann machte einen hastigen Versuch, sich der angedrohten Beobachtung zu entziehen. „Hier darfst Du nicht bleiben,“ sagte er bestimmt. „Der Onkel kann jeden Moment eintreten, und dann giebt es eine furchtbare Scene. Ich bringe Dich vorläufig nach dem Gartenhause, das ich für mich allein habe einrichten lassen. Du wirst schwerlich der Familie vor die Augen kommen dürfen, aber Deine Ankunft muß sie doch – erfahren. Ich werde sie ihr mittheilen –“
„Und den ganzen Sturm allein aushalten?“ unterbrach ihn der Capitain. „Bitte, das ist meine Sache! Ich gehe jetzt stehenden Fußes hinauf zu dem Herrn Onkel und der Frau Tante und stelle mich ihnen als gehorsamer Neffe vor.“
„Aber Hugo! Bist Du denn ganz von Sinnen? Sie ahnen ja noch gar nichts von Deinem Hiersein.“
„Eben deshalb! Mit Ueberrumpelung nimmt man die stärksten Festungen, und ich habe mich lange darauf gefreut, einmal wie eine Bombe mitten unter die grollende Verwandtschaft zu fahren und zu sehen, was für ein Gesicht sie macht. Aber noch eins, Reinhold, Du giebst mir das Versprechen, ruhig hier unten zu bleiben, bis ich zurückkomme. Du sonst nicht in die peinliche Lage gerathen, Zeuge davon zu sein, wie die ganze Schale des Familienzornes auf mein sündiges Haupt geleert wird. Du könntest in brüderlicher Aufopferung etwas davon auffangen wollen, und das stört mir den ganzen Feldzugsplan. – Jonas, komm einmal herein!“
Er öffnete die Thür und ließ eine Mann ein, der bisher draußen im Hausflur geharrt hatte. „Das ist mein Bruder. Sieh ihn Dir ordentlich an! Du hast Dich bei ihm zu melden und Dein Compliment zu machen. Noch einmal, Reinhold, Du versprichst mir, während der nächsten halben Stunde das Familienzimmer nicht zu betreten. Ich werde schon allein da oben Ordnung schaffen, und müßte ich die ganze Baracke mit Sturm nehmen.“
Er war zur Thür hinaus, ehe der jüngere Bruder auch nur eine Einwendung machen konnte. Noch halb betäubt von dem schnellen Wechsel der letzten zehn Minuten, blickte er auf die breite vierschrötige Gestalt des neuen Ankömmlings, der jetzt einen eleganten Reisekoffer auf die Dielen niedersetzte und sich dicht daneben aufpflanzte.
„Matrose Wilhelm Jonas von der ,Ellida‘, jetzt zur Dienstleistung bei dem Herrn Capitain Almbach!“ rapportirte er vorschriftmäßig, und versuchte dabei eine Bewegung, die wahrscheinlich eine Verbeugung ausdrücken sollte, mit dem anbefohlenen Complimente aber nicht die geringste Aehnlichkeit hatte.
„Es ist gut,“ sagte Reinhold zerstreut. „Lassen Sie das Gepäck einstweilen hier! Ich muß erst hören, wie lange mein Bruder zu bleiben gedenkt.“
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