«Ach! Du stehst einfach überall», brach es aus mir heraus. «Man kann nicht mal den Müll raustragen, ohne dass du gleich was Schlimmes vermutest.»
«Wolltest du…?» «Nein, natürlich nicht, dafür haben wir die Angestellten», sagte ich barscher als beabsichtig. Sie hob ihre Augenbrauen, damit sie mir klarmachen konnte, dass sie nicht lockerlassen würde, bis ich ihr sagte, was ich gerade gemacht hatte. Ich holte tief Luft. «Ich war joggen.» Kurze Stille. Ich hatte Amanda noch nie sprachlos gesehen, aber es sah gerade aus, als wüsste sie nicht, was sie sagen sollte. «Joggen?!», wiederholte sie misstrauisch. «Ja.» Was nicht mal gelogen war. Sie hob ihre Schultern. «Seit wann treibst du freiwillig Sport?» Ihre direkte Art verletzte mich. Immerhin war mir mein Gewicht bekannt, ich wusste, dass ich etwas zu viel auf den Rippen hatte. «Ist das so unvorstellbar?», fragte ich herausfordernd. «Gut, aber das nächste Mal sagst du mir Bescheid.» Bitte Bescheid, dachte ich mir. Sie kannte die Nettigkeiten wie Bitte und Danke nicht. Ihre Welt bestand aus ihr selbst. Ich war ihr dabei wohl nur ein Klotz am Bein. «Geh dich jetzt duschen, du bist ganz verschwitzt!», sagte sie angewidert und verschwand in den nächsten Raum. Ich atmete erleichtert aus. Trotz meiner schlechten Fähigkeiten zu lügen, hatte ich sie tatsächlich überzeugen können. Nie würde ich freiwillig joggen gehen…
Meine Zimmertür hatte zwei Flügel aus Holz. An der Wand hing ein überdimensionaler Bilderrahmen, in dessen Mitte sich ein Spiegel befand. Ich besass ein eigenes Badezimmer und einen begehbaren Kleiderschrank. Das Himmelbett stand in der Mitte des Raumes und gleich daneben mein fast unberührtes Klavier. Obwohl ich schon seit zwei Jahren unterrichtet wurde, konnte ich an guten Tagen «Hänschen klein, ging allein» fehlerfrei spielen. Mein Talent lag nicht in Instrumenten, doch Amanda wollte unbedingt, dass ich spielen konnte.
Ich stellte mich unter die Dusche und liess die prickelnden Wassertropfen über mich laufen. Es war erfrischend. Ich schloss meine Augen und dachte an früher zurück. Es gab mehr Momente, in denen ich Mama vermisste, als es mir lieb war. Dieses Trauergefühl löste bei mir Frustrationen aus und somit fand ich mich später in der Küche vor einem Becher Glace wieder. Das Problem war die viele Freizeit. Jeder normale Teenager würde sich jetzt mit seinen Freunden treffen und irgendwas Großartiges unternehmen. Ich sass den ganzen Tag zu Hause und tat nichts. Weil meine Tante reich und eine bekannte Krimischriftstellerin war, durfte ich laut ihr keine normale Schule besuchen. Wir kauften noch nicht mal unsere Kleider in einem Kleiderwarengeschäft, sondern wir besassen eine persönliche Schneiderin. Neigte sich unsere Reserve im Kühlschrank dem Ende zu, gingen unsere Angestellten für uns die Einkäufe erledigen. Ich hatte dieses Leben satt, ich wollte etwas erleben und zur Schule gehen, wie jeder normale Teenager in meinem Alter, das machen würde.
KAPITEL 2 – Abendessen
Stille herrschte im Raum. Amanda war noch nie eine Dame vieler Worte gewesen. Meistens sprach sie kurz und knapp, so wenige Wörter wie nur möglich verschwendend. In der Kürze liegt die Würze.
«Heute Abend serviere ich Ihnen die Spezialität: Gespickter Rindsbraten mit Kartoffelpüree und Gemüsegarnitur.» Unser Chefkoch sprach mit einem leichten französischen Akzent. Das klang süss. Er zog die silberne Glocke von den Tellern und die Spezialität kam zum Vorschein. Eine junge Angestellte des Hauses legte mir eine Serviette auf die Knie, als ob ich so etwas nicht selbst tun könnte.
Heute Abend fand ich lediglich eine Gabel und ein Messer neben meinem Teller. Es gab Abende, an denen ich mehr als bloss verzweifelte, wenn ich das ganze Bestecksortiment neben mir vorliegen fand. «Guten Appetit!» Ich erwiderte es und biss in das noch leicht knackige Gemüse, genau wie ich es gerne mochte. «Lorena…» Ich schaute von meinem Essen auf, überrascht, dass sie ein Gespräch beginnen wollte. Normalerweise genossen wir die Speisen immer in trübseligem Schweigen, aber es sollte mir recht sein. «Wir wurden kurzfristig zu einem Ball eingeladen.» Sie blickte mich streng an. «Was heisst das für mich?», fragte ich unsicher. «Dass du dich benehmen sollst.» «Amanda, wann habe ich das schon einmal nicht?!», erwiderte ich angriffslustig. Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu. Natürlich konnte ich mich an die Geschehnisse auf dem letzten Ball erinnern. Sagen wir’s so, der Kronleuchter paarte sich mit dem Boden, weil ich vielleicht dummerweise über ein am Boden liegendes Kabel im Sperrbereich gestolpert war. «Soll ich anfangen?», fragte sie mich über den langen Tisch. Sie wollte mir meine Ungeschicktheit unter die Nase reiben. «Ich hab’s verstanden.»
«Es ist ein Ball von hoher Wichtigkeit. Ich werde die Begrüssungsrede halten.» Jetzt verstand ich es noch besser. Sie wollte einen guten Eindruck hinterlassen. «Ich kann auch zu Hause bleiben», sagte ich wenig begeistert über den anstehenden Ball. Ich hatte schon viele Bälle erlebt und sie waren weniger spektakulär, als der Name es versprach. «Natürlich wird mich meine Tochter begleiten.» Ich mochte dieses Wort nicht. Tochter. Für die Öffentlichkeit war ich ihr eigen Fleisch und Blut. Doch für mich war es Verrat an meiner biologischen Mutter. «Ich werde einen dunkelvioletten Hosenanzug tragen, mit grossen Knöpfen und einem passenden Hut», schwelgte Amanda in der Zukunft. «Ich werde morgen die Schneiderin kommen lassen.» Sie sprach eigentlich mit sich selbst. Ich widmete mich langsam wieder meinem Essen, das drohte kalt zu werden. «Und wie sieht es bei dir aus?» «Was meinst du?», fragte ich mit vollem Mund. Sie warf mir wieder einen ihrer Mutterblicke zu, der mir sagen sollte: «Benimm dich!»
Schon klar, ich war ihr peinlich, sogar in den eigenen vier Wänden. «Wir könnten mit den gleichen Farben hingehen» «Lieber würde ich sterben, als mit dir im Partnerlook aufzutauchen», gestand ich, nach dem ich mich beinahe an einem grossen Stück Fleisch verschluckt hätte. «Dann sei morgen um 9:00 Uhr unten im Eingangsbereich!», zischte sie mir entgegen und es kam mir vor, als sei sie beleidigt. «Wir haben einiges zu tun morgen.» «Ja, apropos zu tun», versuchte ich und legte mein Besteck nieder. Innerlich versuchte ich gerade genug Kraft zu tanken, damit ich mit meiner Bitte hervorrücken konnte. «Wir haben noch Sommerferien, das wäre die perfekte Gelegenheit Schulbücher zu kaufen.» Es war ihr völlig klar, worauf ich hinauswollte. «Du hast doch noch alles, was du brauchst.» Sie wusste, wie sie sich ihre Vorahnung nicht anmerken lassen konnte. «Nein, habe ich nicht.» Ich wurde wütend. «Ich sollte eine High-school-Zusage auf meinem Schreibtisch liegen haben.» «Nein!», sagte sie barsch und unterbrach mich somit. «Solltest du nicht.» Sie wollte sich wieder ihrem Essen widmen, aber ich redete auf sie ein, dass sie keinen Happen geniessen konnte. «Du weisst ganz genau, dass du mich nicht ewig in diesem Haus gefangen halten kannst.» «Jetzt hör aber auf!» Sie versuchte mich mit ihren Blicken zurechtzuweisen. Ich hielt ihr entgegen, das war das erste Mal, dass ich Blickkontakt mit ihr halten konnte und nicht wegsah. «Ich habe es satt zu Hause unterrichtet zu werden.» Ich wurde lauter. «Das Einzige, was ich will, ist eine Schule zu besuchen. Mehr verlange ich nicht.» Amanda sah mich ernst an, ihre Augen funkelten wütend. Dann erhob sie sich bestimmend, mit einem neutralen Gesichtsausdruck. «Geniess dein Abendmahl» und schon verliess den Speisesaal. Wütend schmiss ich die Gabel in ihre Richtung, doch sie prallte am Türrahmen ab. «Miss Gray, wollen Sie einen Nachschlag?» Der Chefkoch betrat nichts ahnend den Raum. «Nein, will ich nicht!», schrie ich ihn an, sodass er beinahe den Schöpflöffel fallen liess. Auch ich stand auf und rannte in mein Zimmer hoch. Wie konnte Mama zulassen, dass ich zu einer solchen Hexe ziehen musste. Es war gross und fett in ihrem Testament vermerkt worden, falls ihr was zustossen sollte, würde ihre Schwester das Sorgerecht erhalten. Anfangs war es noch okay, aber im Laufe der Jahre hatte Amanda sich verändert. Der Reichtum hatte ihr nicht gutgetan. Er vernebelte ihre Sinne und nun war sie eine Egoistin geworden.
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