Mit Bruder Dominique verstand ich mich bestens, sowohl was meine persönliche Erfahrungswelt als auch was das Ordensleben, insbesondere das Postulat, anging. Erstaunlicherweise blieben mir meine sieben Mitpostulanten fremd, da ich mich trotz zweieinhalb Monaten Sprachstudiums nicht mit ihnen verständigen konnte. Lag es nur an ihrer schnell gesprochenen Sprache oder auch daran, dass sie kein Interesse an meinen Erlebnissen in Besançon, geschweige an meiner Herkunft hatten? Bestimmt hätte ich sie mit meiner Erwartung eines brüderlichen Zusammenseins überfordert, da jeder zu Beginn der Ordenszeit mit sich selbst zu kämpfen hatte.
Neben der hilfreichen Anleitung zum Ordensleben sorgte sich Bruder Dominique um Kamal, ganz so wie Du, Papa, in Deinen Briefen. Er schlug vor, nachdem er von Deiner vergeblichen Geldüberweisung an Kamal hörte, das Geld an einen für die Araberseelsorge beauftragten Priester in Besançon zu schicken, bei dem Kamal dann nicht nur Eure finanzielle Unterstützung hätte abholen können, sondern auch seelische und soziale Begleitung erhalten hätte. Er war aber auch damit einverstanden, dass Ihr mir das Geld ins Kloster schickt. Dominique wollte, dass ich zu Weihnachten einen anderen deutschen Bruder namens Ludwig in Annemasse bei Genf für einige Tage kennenlernte. Bei dieser denkwürdigen Reise am Jahresende über Besançon hätte ich dann Gelegenheit gehabt, Euer Geld Kamal zu seiner Unterstützung zu übergeben. Bei meiner Ankunft in Besançon am 30. Dezember 1970 stand Kamal auf dem Bahnsteig. Minutenlang hielten wir uns beide, den Tränen nahe, in den Armen. Es war ein berührendes, herzliches Wiedersehen und zugleich voller Wehmut, da wir beide ahnten, uns zum letzten Mal zu treffen. In einem dem Bahnhof nahegelegenen, uns vertrauten Café hatten wir uns so viel zu erzählen, dass wir gar nicht merkten, wie schnell die drei Stunden meines Zwischenaufenthaltes vergingen. Ich kam, um zu gehen. Entsprechend der Aussage der Kleinen Theresia von Lisieux: »Wir haben nur das Heute Gottes«, genossen Kamal und ich dennoch dankbar unser spontanes Zusammensein. Erstaunlicherweise war ich bei meiner Weiterfahrt nach Annemasse nicht so betrübt, da ich Kamal gesund, finanziell gestärkt und im Segen Gottes wusste.
Bruder Ludwig erwartete mich am Bahnsteig, umarmte und küsste mich brüderlich, wie es bei den Franzosen üblich ist, und ich fühlte mich fast wie zu Hause. Bestand aus meiner heutigen Sicht in der Brüdergemeinschaft von St. Rémy eine überwiegend kalte »Männerwirtschaft«, so erfuhr ich in der Fraternität von Annemasse eine einfühlsame, warme Atmosphäre, in der mein Herz sofort aufging. Papa, Ludwig sah genauso aus wie Ottmar, Dein Krankenpfleger, den Du damals zu uns nach Hause eingeladen hattest. Ludwig hatte einen angenehmen, heiteren Charakter, lachte viel und war wie ein leiblicher Bruder um mich besorgt. Es tat mir unheimlich gut, nach drei Monaten mal wieder mit einem gleichaltrigen Bruder deutsch sprechen zu können.
Wieder in St. Rémy, begann meine Ende November aufgenommene Arbeit als Anstreicher in einer kleinen Gruppe in Montbard. Gemäß der benediktinischen Ordensregel Ora et labora – bete und arbeite -, arbeiteten wir als Postulanten der Kleinen Brüder Jesu in verschiedenen Hilfstätigkeiten. Mit den Kollegen und dem Chef verstand ich mich bestens. Und das Essen war jeweils fürstlich vom Chef in einem Restaurant bestellt – mit Vor- und Nachspeise und immer mit Wein. Allein der etwas zudringliche Chef wollte immer noch einige Worte mehr mit mir sprechen und erzählte mir glücklich, dass sein Sohn in Deutschland Ingenieurwissenschaft studierte. Während der drei Monate harter Anstreicherarbeit beglückte mich die Hin- und Rückfahrt von St. Rémy nach Montbard mit dem Fahrrad am Kanal entlang. Wie oft sind wir, Papa, gemeinsam bis zu unserem Schrebergarten am Rhein-Herne-Kanalweg entlanggegangen. Ohne über meinen Weggang zu klagen, berührte es mich tief, in Deinem zweiten Brief nach Frankreich die Zeile zu lesen: »Seit Du fort bist von hier, trage ich Deinen dunkelblau gestreiften Pullover. Du glaubst nicht, wie gut er mir passt, brauch’ jetzt nicht mehr die Jacke im Schrebergarten.«
Gespannt sah ich Ende Februar 1971 dem bald beginnenden Noviziat in Nordspanien am Rande der Pyrenäen entgegen – dank dem Vorbild der Kleinen Theresia von Lisieux, der ich anvertraute, dass ich in dieser Gemeinschaft der Kleinen Brüder Jesu am richtigen Ort in meiner Nachfolge Jesu war. Sagt sie doch, dass wir Gott in seiner Herrlichkeit schauen und erfahren werden, vor allem seine Frohe Botschaft, die er denen verheißen hat, die ihn in Christus lieben. Vor der Abreise ins Noviziat nach Farlete hatte ich in der ersten Märzwoche 1971 noch fünf Tage Heimaturlaub, bei dem ich überglücklich war, die geliebte Familie wieder zu sehen.
Vom Novizenmeister Bruder Daniel de la Fressange, einer großen Gestalt mit durchdringendem Blick und adliger Herkunft, erfuhren wir Postulanten, dass das Noviziat der Meditation, Kontemplation und geistlichen Betrachtung der Schriften von Charles de Foucauld und Père René Voillaume diente. In Farlete arbeiteten wir deshalb nur halbtags. Seit 1968 kirchlich anerkannt, breitete sich die Gemeinschaft über die ganze Welt aus. Sie ist eng mit den Kleinen Schwestern Jesu verbunden, die sich wenige Jahre später 1946 gründeten und heute ebenfalls international vertreten sind. Im Noviziat war der Kontakt zur Außenwelt auf ein Minimum beschränkt.
Ich war jedoch erst einmal nach der Ankunft im kleinen Dorf Farlete nahe der Großstadt Zaragossa vor allem von der Blütenpracht in karger wüstenähnlicher Landschaft überwältigt. Freute ich mich mit Dir, Papa, in jedem Frühling über jede neu entstandene Blüte in unserem Garten, so half mir hier die malerische Landschaft, mich von der Last des Alltags zu befreien. Im Gegensatz zu meinen Brüdern, die Steine von den Feldern der Bauern wegräumten, hatte ich die kleine Herde der Schweine des Bauern zu hüten. Der Beginn meines vegetarischen Lebens in einer sympathischen Verbundenheit zu meinen Schwestern und Brüdern, den Schweinen, wie Franz von Assisi sagen würde, rief in der Fraternität Befremden und Verwunderung hervor. Dennoch wurde ich mit fünf Postulanten Ende März 1971 feierlich während eines Gottesdienstes in das Noviziat aufgenommen. Zuvor verweilten wir zehn Tage zu Exerzitien in den Pyrenäen. Trotz aller Härte dachte ich wieder an Marlenes Gedichtzeile von Herrmann Hesse: »Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und hilft zu leben.«
Nein, nicht die mir ans Herz gewachsenen Schweine, noch die faszinierend tiefschwarzen Kaulquappen, die ich bei zunehmender Sonne im Mai von einer ausgetrockneten Pfütze in die nächst größere trug, waren der Grund für Daniels Zweifel an meinem Verbleib in Farlete, sondern die vielen Briefe aus Karnap. Er verbot mir, selbst Briefe von Mitbrüdern aus Annemasse zu beantworten, auch nicht vom Bruder Noi aus Ho-Chi-Minh-Stadt, den ich in St. Rémy kennengelernt hatte und seitdem mit ihm in Brieffreundschaft verbunden war. Nach zwei Monaten stellte Bruder Daniel fest, dass ich mich nicht verändert, sondern wegen Eurer vielen Briefe, wie er sagte, »meine Heimatstadt Essen nach Farlete ins Noviziat geholt hätte«, was eben seiner Meinung nach nicht ging. Er sah meinen Verbleib im Noviziat als gefährdet an.
Damals war ich zu sehr von meinem Leben in der Gemeinschaft der Kleinen Brüder Jesu überzeugt, als dass mich Daniels Aussagen beunruhigt hätten. Daher sagte ich ihm, der an einen Krankenorden für mich dachte, dass keine andere Ordensgemeinschaft für mich infrage käme. Dennoch blieb ich nach Daniels Mitteilung nur noch zwei Monate, bis zum Juli 1971, im Noviziat. Ich nahm unverändert gerne am religiösen Leben teil, ging meiner Arbeit als Schweinhirt nach und genoss die Exerzitien-Tage in den Grotten der Pyrenäen.
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