Ich hatte ihn damals bei den Fahrten zu den Leseabenden als einen sehr besonnenen und sicheren Autofahrer, einen intelligenten, bescheidenen, freundlichen, empathischen, sexuell stimulierenden, manchmal melancholischen, ja vielleicht sogar depressiven, dennoch durchaus hilfsbereiten, aber leider auch sehr starrköpfigen Mann mit zwei sich feindlich gegenüberstehenden Seelen kennengelernt, denn er schien niemals ganz mit sich und seiner Welt zufrieden sein zu können. Er schien niemals mit sich im Einklang zu sein oder sein zu können.
Heute bin ich ein wenig stolz darauf, sagen zu können, dass ich ihn in diesem seinem dualistischen Inneren kennenlernen durfte.
Heute bin ich sehr stolz darauf, von ihm dafür auserkoren worden zu sein, seine Aufzeichnungen in meinen Händen halten zu dürfen und für deren Vermarktung zuständig zu sein.
Heute bin ich äußerst stolz darauf, seine Memoiren in einem der größten und angesehensten Verlage untergebracht zu haben.
Leider war unser gemeinsamer Weg viel zu kurz, denn er war zu spät dort angekommen, wo er hätte glücklich werden können. Für ihn hatten die Irrfahrten seines Lebens zu lange gedauert, um noch einen anderen Ausweg finden zu können als den, den er aus seinem Innersten heraus für sich wählte.
Vor seinem letzten Besuch im Theater der Sinne nahm er so Abschied von mir, wie er sich immer von mir verabschiedet hatte.
Nichts hatte auf einen endgültigen Abschied hingedeutet.
Ich bin traurig, seine Absicht nicht erkannt zu haben und in jener Nacht nicht bei ihm geblieben zu sein, als er mal wieder allein sein wollte, wie er es sich zumindest gegen Ende unserer Beziehung leider viel zu oft gewünscht hatte.
Ich werde ihm seinen Autounfall niemals glauben. Ich glaube es ihm deshalb nicht, weil es mir für seinen gewöhnlichen Fahrstil nahezu unmöglich erscheint, dass er mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit gegen einen einzelnen Baum auf einem ansonsten freien Feld prallte.
Ich kann es auch deshalb nicht glauben, weil er mir zuvor schon einmal von diesem einzelnen Baum berichtet hatte, als er sich von mir kommend auf der Heimfahrt gemeldet hatte, um mich beruhigt einschlafen zu lassen.
Bei seiner Feuerbestattung waren viele von denen zugegen, mit denen er sich in seinem Leben hatte anlegen müssen. Sogar seine letzte Exfrau war zugegen und sie hatte es sich nicht nehmen lassen, noch einmal auf seine Urne zu spucken.
Eigentlich hatte ich sie alle fragen wollen, ob sie nun endlich glücklich waren, ihn mit ihren Anfeindungen, mit ihrem demonstrativ zur Schau getragenen Abscheu, ihn mit ihren offen gegen ihn geführten Kriegen und Verleumdungsschlachten dahin gebracht zu haben, seinem Leben ein Ende zu setzen, doch ich ließ es bleiben, weil er doch ganz offensichtlich nur in einem Verkehrsunfall sein Leben gelassen hatte und weil er mir noch zu seinen Lebzeiten vorhergesagt hatte, dass sie mich sowieso nicht verstehen würden, so wie sie ihn niemals verstanden und damit zugrunde gerichtet hatten.
AUFZEICHNUNGEN DES ARVED WUNDERLICH
Nur für D/S-Polyamoristen
In diesem Monat will ich mein Tagebuch beginnen lassen, denn es war der Monat, der ein weiteres Mal größte Veränderungen in mein Leben brachte. Dinge, die ich niemals erwartet hatte, nahmen in diesem Monat ihren Lauf.
Kalea war mir bei den Seitensprüngen auf die Schliche gekommen und wir hatten bereits damit begonnen, jeder seiner eigenen Wege zu gehen, lebten aber noch unter einem Dach.
Der Tag des Tagebuchbeginns war vergangen, wie eben die Tage für ältere Leute so vergehen. Ich hatte mal wieder die wilde Begierde nach starken Gefühlen durchlebt, nach dem besonderen Kick, eine junge Frau zu verführen oder einige Vertreter der bürgerlichen Welt mit meinen Ideen zu schockieren. Nichts davon war mir bis zum Abend gelungen. Meine Ehefrau Kalea war mir aus besagten Gründen den ganzen Tag über aus dem Weg gegangen.
Also begab ich mich bei Finsternis und Nebel in den nächstgelegenen Club, den Club neunundsechzig, dessen neuer Geschäftsführer, der ehemalige Universitätsprofessor Doktor Karl Wogner mir einigermaßen stark ans Herz gewachsen war. Ich wurde auf dem Weg dorthin angetrieben von der immer stärker werdenden Sehnsucht nach einer neuen Sinngebung für mein sinnlos gewordenes Menschenleben und war dann froh, den Club endlich erreicht zu haben und etwas sonderbar Neues an dem alten Gebäude entdecken zu können.
Über der ehrwürdigen Pforte des Clubs leuchteten zum ersten Mal bunte bewegliche Buchstaben, die verschwanden, wiederkamen und erneut verflogen.
Doch ich schien der Einzige zu sein, der sie überhaupt wahrnahm, denn andere Gäste stolzierten an mir vorbei und wunderten sich, dass ich so betrachtend vor der Pforte verharrte.
Es dauerte eine Weile, bis ich meinte, einige Worte erhaschen zu können: „Theater der Sinne, Eintritt nicht für jedermann, nur für Perverse.“
Das war es, wonach ich suchte, doch Karl, der Geschäftsführer des Hauses, musste mich auf meine Nachfrage hin enttäuschen, denn er hatte keine neue Inschrift über der Pforte anbringen lassen und konnte draußen auch nach genauerer Untersuchung nichts erkennen.
Selbst mir blieben in seiner Anwesenheit die Buchstaben verschlossen.
Etwas enttäuscht musste ich also zur Kenntnis nehmen, dass meine Seele mir ihre Wünsche immer häufiger und nachträglicher ins Bewusstsein zu rufen schien und ich nichts für sie zu tun imstande war. Der besondere Kick musste zwingender denn je her, wenn ich mal wieder etwas heiterer auf mein von mir als kümmerlich empfundenes Leben blicken wollte.
Leider war auch das Treiben im Etablissement zunächst mehr als gewöhnlich und wenig prickelnd. Die meisten Paare blieben Ewigkeiten im Restaurant, stopften in sich hinein, was das Buffet hergab, tranken übermäßig vom kostenfreien Rotwein und sprachen dabei von ihren im Leben durch harte Arbeit oder eben geniales Investment angehäuften Besitztümern.
Ich hasse diese Selbstdarsteller, wenn sie das in einem Swingerclub tun müssen, wo es eigentlich um den Spaß gehen sollte.
Nach nicht ganz zwei Stunden war ich endgültig so weit, mich wieder nach Hause zu schleichen, als plötzlich ein Paar, das das Etablissement gerade eben erst betrat, mein Interesse weckte und mich zum Bleiben animierte.
Ein schon leicht betagter Mann, ungefähr in meinem Alter, hatte ein junges Mädchen von ungefähr zwanzig Jahren im Schlepptau.
Ich beschloss also umgehend, doch noch eine Weile zu bleiben und mir dieses Pärchen genauer anzuschauen.
Die Göre war ganz offenbar zum ersten Mal in einem Club. Mit neugierigen Augen schaute sie sich um und konnte, nachdem sie in ihre sexy Dessous, bestehend aus einem knappen, silberfarbenen Höschen, in dem sich ihre Schamlippen deutlich abmalten, und einem die Brüste so gerade eben bedeckenden Oberteil, das ebenfalls ihre harten Nippel durchschimmern ließ, geschlüpft war, die Gänsehaut der Erregung nicht verbergen.
Ich folgte den beiden auf Schritt und Tritt und hielt lediglich anstandshalber einen gewissen Abstand ein.
Der ältere Begleiter nahm fast sofort wahr, dass ich an ihnen interessiert zu sein schien, wartete aber ein paar Minuten ab, ehe er zu mir kam und meinte, ich solle in zehn Minuten in den SM-Raum kommen, um das Kopfkino des jungen Dings, das er mitgebracht habe, zu befriedigen. Sie wünsche sich ein Rollenspiel und zwar wolle sie in einem Spiel von fünf Männern mit dezenter und dennoch zwingender Gewalt genommen werden, ohne sich dagegen zur Wehr setzen zu können.
Da ich sofort mein Interesse daran zeigte, wies er mich noch einmal darauf hin, dass ich mich in zehn Minuten in den SM-Raum begeben solle. Er heiße Walter und würde mit Emilia, so der Name der jungen Frau, nachkommen, sobald er vier weitere geeignete Kerle für das Spiel zusammen habe.
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