Er hasste es, im Weltraum zu sein. Keine künstliche Schwerkraft konnte für ihn das Gefühl ersetzen, festen Boden unter den Füßen zu haben. Er glaubte sogar, dass sich die künstliche Schwerkraft anders als die natürliche anfühlte, etwa so, wie die auf der Station zubereiteten Nahrungsmittel nicht ganz dem Geschmack auf der Erde entsprachen. Sie bestanden aus den gleichen Zutaten, den gleichen Bestandteilen, der gleichen chemischen Zusammensetzung, und schmeckten doch anders. Künstlich.
Die Schwerkraft an Bord der Station entsprach zu einhundert Prozent der auf der Erde, doch Marshall spürte die Unterschiede zu jedem Zeitpunkt.
Nun ging alles zum Teufel, und er ahnte, dass er noch eine sehr, sehr lange Zeit hier zubringen würde.
Es gab einmal eine Zeit, da glaubte er noch an Gott. Er hatte seinen Glauben vor Weyland-Yutani geheim gehalten, denn in einer Firma, die so sehr von der Entwicklung und Anwendung der Wissenschaft getrieben war, gab es für solchen Aberglauben keinen Platz, ganz besonders nicht unter den führenden Dreizehn. Stattdessen hatte er seinen persönlichen Glauben gepflegt, der ihm Trost spendete, aber niemals zugelassen, dass er seiner Arbeit oder seinem wachsenden Einfluss im Weg stehen würde. Während er in der Firmenhierarchie aufstieg und sich schließlich als einer der führenden Elite wiederfand, zogen sich seine religiösen Überzeugungen immer mehr zurück, bis sie schließlich verwelkten und starben. Manchmal bedauerte er, dass er diesen Prozess noch nicht einmal bewusst wahrgenommen hatte.
Nun spürte er die Versuchung, sich erneut an Gott zu wenden, auch wenn Marshall bezweifelte, dass dieser ihn erhören würde.
General Bassett hatte Marshall in seiner Kabine aufgesucht, um ihm die neuesten Berichte zukommen zu lassen. Für gewöhnlich zitierte Bassett ihn in sein Kommandozentrum, doch dort herrschte Hektik. Also hatte der General die Gelegenheit genutzt, für eine Weile dem Trubel zu entkommen, um seine Batterien aufzuladen und seine Glieder zu bewegen.
Zwei Marines begleiteten ihn, welche unablässig stirnrunzelnd auf ihre Daten-Pads starrten und über ihre Ohr-Implantate den neuesten Berichten lauschten.
»Demnach gibt es überhaupt keine guten Nachrichten?«, erkundigte sich Marshall. »Nicht einmal eine Klitzekleine? Gar nichts?«
Bassett zuckte nur mit den Schultern, ohne eine Miene zu verziehen.
»Wie sieht es mit den Systemen und Raumsektoren aus, von denen wir noch nichts gehört haben?«
»Uns liegen keine Hinweise vor, dass die Rage noch in einen anderen Sektor außer dem Gamma-Quadranten eingefallen sind«, antwortete Bassett. »Aber das ist nur noch eine Frage der Zeit. Bei der Anzahl an Sprungtoren, die sie eingenommen haben, und der Geschwindigkeit, mit der sie sich im Gamma-Quadranten ausbreiten, glaube ich nicht, dass sie an der Stelle aufhören werden.«
Marshall sah kopfschüttelnd auf den Holo-Schirm. Dort tummelte sich eine Reihe von Informationen, die direkt von General Bassetts persönlichem Daten-Pad übertragen wurden – Statusberichte und Bilder, bei denen es ihm kalt den Rücken herunterlief.
»Es geht alles zum Teufel«, flüsterte er.
»Wir errichten Verteidigungsanlagen« sagte Bassett. »Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen, aber …«
»Wieso nicht, Paul?«
Die Frage schien den General aus dem Konzept zu bringen. Der unterbrach sich, runzelte die Stirn, dann entspannte er sich wieder ein wenig und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Weil ich entweder hier sitzen und Ihnen von jeder Niederlage berichten kann, die mich ereilt, oder in meinem Kontrollzentrum dafür sorge, unsere eigene Verteidigung zu überwachen.«
Marshall nickte. Seufzte. Schloss seine Augen.
»Sie sind hier der Soldat.«
»Ich lasse die Datei hier auf Ihrem Holo-Schirm. Es ist alles da. Lesen Sie sie, und melden Sie sich bei mir, falls Sie Fragen dazu haben.« Er machte eine Pause und fügte dann hinzu: »Ich kann Ihnen aber nicht garantieren, dass ich mich sofort zurückmelde.«
»Und die Charon-Station?«
»Seit 16 Uhr befinden wir uns offiziell im Kriegszustand, allerhöchste Alarmbereitschaft.«
»Aber wir sind hier doch sicher, oder?«, fragte Marshall.
»So sicher wie überall.« Der General stand auf, um zu gehen.
»Paul«, hielt ihn Marshall zurück. Auch er stand auf und taumelte leicht, weil ihm die Weltraumkrankheit immer wieder einen Streich zu spielen versuchte. »Die bewohnten Welten. Addison Prime, Weaver's World, all die anderen Planeten …«
»Bisher gibt es keine Berichte über Probleme«, beschwichtigte ihn Bassett. »Wir verstärken unserer Truppen zu ihrer Verteidigung, wo wir nur können. Steht alles da drin.« Er nickte zu dem Holo-Schirm.
»Denn wenn diese Dinger dort landen …«
»Ich weiß, Marshall.«
»Ich meine, es leben Millionen Menschen auf diesen Planeten.«
»Ich weiß.«
Die beiden Männer – der eine ein Repräsentant der Company, der andere ein Kommandeur der Marines – starrten sich einen Moment lang an, und in diesem kurzen Augenblick gab es nichts, was sie voneinander unterschied. Sie waren Männer, Menschen, verletzlich und voller Angst. Widerwillig respektierten sie einander, vertrauten sich sogar.
»Wir tun, was wir können«, versicherte der General. »Vielleicht sollten Sie überlegen, was Sie noch tun könnten.« Das war eine gewagte Bemerkung, die nicht direkt Marshall, sondern vielmehr der Company und dem Rat der Dreizehn galt, die sie kontrollierten.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließ Bassett die Kabine und kehrte zu dem Krieg zurück.
Marshall seufzte tief, goss sich einen Drink ein und ließ sich wieder in seinen Sessel sinken. Egal, wie sehr er den Holo-Schirm auch anstarrte, es half nichts, sich zu wünschen, dass die Lage anders wäre, und die Informationen, die auf ihm zu lesen waren, blieben die gleichen.
Die Meldungen aus dem Gamma-Quadranten waren besorgniserregend. Sieben Sprungtore wurden als verloren gemeldet, und ihre Kontrollpunkte, die sich in Orbitalstationen oder Habitaten, auf Monden, Planeten oder Asteroiden befanden, waren entweder zerstört oder von den Rage überrannt worden. Zu siebzehn weiteren Toren war der Kontakt abgebrochen und man konnte davon ausgehen, dass auch diese verloren waren. Alles in allem ein weitreichendes Netzwerk aus Sprungtoren, das einen Großteil des Gamma-Quadranten abdeckte.
Jedes der sieben als eingenommen bestätigten Sprungtore war aktiviert worden, und es war unmöglich zu prognostizieren, wohin die feindlichen Schiffe verschwunden waren.
Die Berichte über Angriffe auf Basen der Marines und Sprungtore waren niederschmetternd. Ihre Verluste waren enorm und die als Waffen eingesetzten Xenomorphs schienen unaufhaltsam. Sie waren sogar im All selbst eingesetzt worden, wo sie wie Blütenstaub von einem Schiff zu einem anderen trieben, ausgestattet mit einer Art Atemapparat oder Lebenserhaltungssystem, das es ihnen ermöglichte, im kalten, luftleeren Vakuum zu überleben.
Manche dieser Angriffe waren von hunderten dieser Biester ausgeführt worden, andere von tausenden. Sie wurden kontrolliert und wie gewöhnliche Truppen mit einer Mission ausgesandt. Niemandem war es bislang gelungen, eines dieser Aliens lebendig zu fangen. Die Technologie, die hier zum Einsatz kam, war rätselhaft.
Marshall hatte während seiner gesamten Karriere bei Weyland-Yutani alles daran gesetzt, Mittel und Wege zu finden, die Xenomorphs kontrollieren zu können. Als Leiter von ArmoTech hielt er dies für die ultimative Errungenschaft. Die Xenomorphs stellten eine beinahe unaufhaltsame Macht dar – grausam, gewalttätig, schnell und unberechenbar. Sie verfügten über so gut wie keine Verteidigungsmechanismen, doch ihre Fähigkeiten, sich fortzupflanzen, waren dafür unerreicht. Es gab sogar einige, die die Xenomorphs für das Ergebnis der Schaffung einer biologischen Waffe hielten, von einer unbekannten außerirdischen Intelligenz entwickelt. Geschöpfe des Krieges.
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