Ich merke, dass ich versuche, vom Tisch aufzustehen. Und gerade dieser bewusste Reflex macht mir klar, dass ich mich der Promillegrenze nähere, die ich einmal in den siebziger Jahren hatte, als ich mit Ole und Finn Strømsted im Theatercafé saß und mich danach auf der Toilette erbrechen musste.
Aber ich habe Elton John im Blick. Ich sehe ihn so deutlich. Deutlicher und deutlicher sogar. Er sitzt gleich da drüben. Niemand hält mich auf, darf mich aufhalten. Zwischen mir und dem Weltruhm liegen nur einige Schritte und zwei Sätze. Die Jungs vom Stavangerensemble werden mich unterstützen. Blyge Harry ist ebenfalls ein potenzielles Elton-John-Stück. Er hat Zeit, natürlich hat er Zeit, um morgen ins Rosenberg Studio zu kommen. Was er dort hören wird, wird ihn umwerfen. Er hat vielleicht nicht geglaubt, dass Norwegen mehr zu bieten hat als schwachsinnig kreischende Fans? Sieht er nicht die Eastlake-Ausstattung des frisch renovierten Studios? Den Kork an den Wänden? Hört er den Klang nicht? Den Steinway-Flügel? So hat das zu klingen!
Aber im Raum ist jetzt viel Wasser. Er hat das Gefühl, schwimmen zu müssen, die Arme zu heben, sie zu bewegen, um näher an Elton John heranzukommen, der dort hinten sitzt, ein Glas Wasser trinkt und ein verdammtes vegetarisches Gericht isst, was immer das sein mag.
»Elton!«, ruft er. »Elton! Jetzt hörst du verdammt noch mal zu!«
Er ist so nah, so dicht dabei. Da steht plötzlich Froddi vor ihm, lächelt verständnisvoll, streichelt ihm die Wange. Aber was zum Henker? Was ist hier los? Soll er nicht mit Elton John reden dürfen? Ist das nicht das Mindeste, was man verlangen kann? Sollte das nicht möglich sein? Scheiß, das muss doch möglich sein!!!
Und nun sieht er Dag Frøland, der nicht ganz sicher auf den Beinen an ihm vorbeigeht und in einer herzlichen Umarmung über Elton John hereinbricht.
»Roger Whittaker! My dearest Roger Whittaker! What a pleasure to say hello to you!«
Springsteen in der Drammenshalle.
Ich war nicht dort. In den folgenden Jahren werde ich immer wieder von den Konzerten mit diesem Marathonmann hören, der so gern bis zu vier Stunden im Flutlicht steht. Menschen zu Tausenden, bis an den Rand gefüllt mit großen Erlebnissen. Ich war da. Du etwa nicht?
Nein, ich war nicht da. Die Stadionkonzerte. Die Sporthallen. Springsteen mit seinem »One, two, three, four« vor jedem einzelnen Lied. Ich denke an Rechtecke. Oder Vierecke. Ich sehne mich zurück zu Blinded By The Light .
Aber ich war nicht für das hier geschaffen. Hatte keine Rechte. Stand außerhalb der guten Gesellschaft, selbst wenn mir The River gefiel.
Dennoch sitze ich vor der Zeitung und sehe die junge Nini Stoltenberg mit dem Meister persönlich tanzen. Es ist so groß. Ein Mensch aus Norwegen tanzt mit einem weltberühmten Amerikaner. Noch sind wir nicht daran gewöhnt. Die Nation ist in dieser Hinsicht noch immer so jung. Die schöne junge Frau aus der Stoltenberg-Dynastie. Springsteen in der Drammenshalle, in der Stadt, in der Arnulf Øverland einmal in den sechziger Jahren vor Jesus und dem Weltuntergangschristentum gewarnt hatte, während Aage Samuelsen in »Halleluja«-Rufe ausbrach. Øverland hatte die Stimme gehoben, versucht, seine Botschaft weiter zu verkünden, aber die Jubelchristen waren bereits in Gesang ausgebrochen. Halleluja! Der Traum von Jesus. Er füllte ihr Leben. Für sie galten Jubel und Tanz. Dieselbe alles verschlingende Gemeinschaft. Das Licht dort vorn auf der Bühne. Jesus Christus. Bruce Springsteen. One, two, three, four! Ich denke an Tore Olsen. Er ist sicher dort. Alle die richtigen Menschen sind dort. Die Geschmacksrichter. Die Plattenkäufer. Down to the river . Der Wundermann aus New Jersey. Der Mann aus Nazareth. Draußen auf Sandøya versuche ich, den Takt zu finden, aber das ist unmöglich. Die Feuerzeuge sind verloschen. Es ist zu spät.
Ich lasse Prokofjews düstere fünfte Symphonie laufen, aus purem Trotz.
Aber auch das ist zu spät.
Der Juni ist immer schwül. Plötzliche Hitze, für einige Tage. Die setzt oft am Pfingstmontag ein, wenn die Sommergäste das Wochenende im Regen verbracht haben und sich für die Rückfahrt nach Oslo bereitmachen. Aber nach einigen Wochen schlägt das Wetter um, und der Regen trifft die Südküste und Ostnorwegen ungefähr dann, wenn Paul Karlsen & Co gegen Ende des Monats das Kalvøyafestival organisieren.
Israelische Flugzeuge bombardieren den einzigen Atomreaktor des Irak, gleich am Stadtrand von Bagdad. Als Begründung führen sie an, mit dem Reaktor könnten Atombomben zur Vernichtung Israels hergestellt werden.
Ein französischer Atomtechniker kommt dabei um. Der Reaktor wird unter französischer Regie errichtet. Aus Paris kommt wütende Kritik an Israel.
Zwei Tage darauf werden die Friedensaktivisten Nils Petter Gleditsch und Owen Wilkes zu sechs Monaten auf Bewährung und jeweils 10 000 Kronen Strafe verurteilt. Ihr Verbrechen heißt Onkel Toms Kaninchen , ein Buch, in dem Informationen über die amerikanischen Abhörstationen in Nordnorwegen veröffentlicht werden. Das Projekt nahm seinen Anfang, als die beiden als Zeugen in dem Prozess gegen den SV-Politiker Ivar Johansen vorgeladen worden waren, dem zur Last gelegt wurde, die Mitarbeiter des Staatsschutzes ermittelt und ihr Material der SV-Zeitung Ny Tid angeboten zu haben. Der spätere Redaktionschef von Gyldendal musste sechzig Tage absitzen, während acht Monate in eine Bewährungsstrafe umgewandelt wurden. Später würde er, ironischerweise im Ikkevold-Fall, abermals vor Gericht gestellt werden, da er eine von den USA finanzierte Abhörstation auf Andøya und eine Überwachungsanlage enttarnt hatte. Er wurde schließlich vom Obersten Gericht freigesprochen, von der AKP(ml) als sowjetischer Agent beschuldigt, von der Zeitschrift Farmand, dem Organ für die Freiheit der Wirtschaft, als Parteigänger der RAF bezeichnet, während die Leitung seiner eigenen Partei SV sich besorgt fragte, ob er wohl ein Provokateur sein könne, als herauskam, dass er in engem Kontakt zu dem legendären und geheimnisvollen Sektionschef des militärischen Geheimdienstes Trond Ivar Johansen gestanden hatte.
Bei ihrem Prozess im Liste-Fall wollten Gleditsch und Wilkes in erster Linie aufzeigen, wie leicht es war, solche geheimen Stationen zu entlarven, die eine fremde Macht in Norwegen angelegt hatte. Man brauche sich nur irgendwo hinzustellen und Ausschau nach Antennen zu halten, behaupteten sie. Da sie es für selbstverständlich hielten, dass die UdSSR über diese amerikanischen Installationen auf norwegischem Boden längst informiert war, schrillten keinerlei Alarmglocken, als das Buch geschrieben wurde. Alle Quellen waren doch ganz offen und zugänglich bis hinunter zum Telefonbuch. Aber das Kommunalgericht meinte, es gebe in diesem Dokument zu viele Details, und stellte die Frage, ob das denn wirklich nötig sei nur, um gesellschaftskritische Forschung zu betreiben.
Ich rufe Vater an, den alten NATO-Skeptiker.
»Ist das möglich, Vater?«
Er zögert ein wenig. »Es sind neue Zeiten, mein Sohn. Aber ich bringe diesen Friedensforschern gewaltige Achtung entgegen.«
»Ja?«
»Ja.«
Ich lege auf, verwirrt darüber, dass es zu keiner größeren Diskussion gekommen ist. Dass sich die Argumentation im Urteil in den Schwanz beißt, ist offenkundig. Etwas an diesen Prozessen und ihrer Sprache ist unheimlich. Ein Gefühl, dass es eine andere Wirklichkeit gibt, ein anderes Stück Norwegen, von dem ich nichts weiß. Dass normale, intelligente Menschen auch in Norwegen zu Dissidenten werden, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Ein sowjetischer Dissident ist ein Held. Ein norwegischer Dissident ist ein potenzieller Kommunist und eine Gefahr für das Land.
Ab und zu, am frühen Morgen, wenn ich unten am Anleger stehe und auf die Søgne warte, kann ich schwere Militärflugzeuge sehen, oft Herkulesmaschinen, die leise im Tiefflug über die Insel jagen. Es kann ein Dienstag oder ein Freitag sein. Nie ein Wochenende. Aber die Flüge kommen mit einem fast unmerklichen Summen von Lyngør herüber. Erst klingt es, als ob man an einer Angelrute die Schnur einholt. Später wird das Geräusch nähmaschinenartig, ehe es wie ein heißer Hauch von etwas Gefährlichem wirkt, etwas Stillem, etwas Unwirklichem, etwas Verdecktem: »Sieh mich nicht, aber wenn du mich gesehen hast, dann vergiss lieber nicht, dass es mich gibt.«
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