Alles schien in die Brüche zu gehen. Und niemand außer ihm ahnte, wie sehr alles außer Kontrolle geraten war. Wenn Ingar zu seinen täglichen Nachmittagsbesuchen kam, versuchte er, so enthusiastisch und selbstsicher zu sein wie überhaupt nur möglich. Ob es auf dem Dachboden Parkett von Siljan geben solle? Die breitesten und teuersten Bretter? Natürlich! Ingar brauchte nicht einmal zu fragen.
»Wie gut«, sagte Ingar lächelnd. »Denn der Boden ist schon bestellt. Und morgen kommt die Treppe. Die wird sehr schön. Sie kostet zwar 50 000 und nicht 25 000, wie ich zuerst gesagt hatte, aber für dich, Ketil, spielt das doch sicher keine große Rolle?«
»Absolut nicht«, antwortet er.
Woher kommt dieser idiotische Stolz? Die dümmsten Menschen, die er kannte, waren doch die, die über ihre Verhältnisse lebten. Für wen spielte er hier den reichen Mann? Er hatte weniger als 100 Kronen auf dem Konto. Einmal hatte er den Überziehungskredit von 10 000 für reichlich gehalten und sich nicht vorstellen können, ihn jemals in Anspruch zu nehmen. Jetzt musste er, aber wofür? Der Einzige, der bei diesem wahnwitzigen Projekt Sicherheit gab, war Zimmermann Harald. Er hatte Vorschuss, Nachzahlungen und alles bekommen. Das wäre ja auch noch schöner gewesen. Er war ein enger Freund. Ingar war ebenfalls bezahlt worden. Was wirklich kostete, waren die Materialien. Konnte er sich damit trösten, dass Siljan sicher eine große Firma war, dass ein einzelner Konkurs auf Sandøya in deren Bilanz am Ende keine Rolle spielen würde? Aber was war mit der Treppenfabrik? Und was mit den vielen anderen kleinen Lieferanten? Er hatte die Einsamkeit immer als Freundin betrachtet. Aber diese Einsamkeit hier war krank. Es war die Einsamkeit des Betrügers. Die Einsamkeit des Mörders in den Stunden vor der Hinrichtung, wenn der Galgen bereitgemacht wird.
Nachts, oft gegen vier Uhr morgens, wälzt er sich im Bett von einer Seite auf die andere, in dem Haus, von dem er weiß, dass er es im Laufe des Sommers verlassen muss, vielleicht schon im Juni, warum nicht am Johannisabend, wenn alle anderen ihre Holzboote mit Birkenzweigen schmücken und nach Kvernskjær hinaustuckern, mit billigem Bier, Wein und selbstgekochtem Proviant in ihren Körben. Ja, gerade dann werden er und die Andere die Insel verlassen müssen, ein riesiger Möbelwagen wartet schon auf der Hagefjordbrygge und Männer in den Uniformen der Umzugsfirma holen den schwarzen Flügel, die Bücher und die Schallplatten. Was hatte er denn geglaubt? Dass die LP mit Lill Lindfors so viel verkaufen würde wie ABBA? Dass er sich eine Villa auf Mallis und eine Wohnung in New York zulegen könnte? Zwei Polizisten aus Tvedestrand passen auf, während die Zwangsauktion durchgeführt wird, damit alle Besitztümer in das Lager für Konkursmassen gebracht werden, ein großes, hässliches Gebäude irgendwo bei Østerkleiv. Die Verhandlung ist für August anberaumt. Dann wird entschieden, ob er im Schuldgefängnis landet. Wird er es wagen, in der Poco-Loco-Hose vor Gericht zu erscheinen? Die Jacke von Yves Saint Laurent, für deren Anschaffung Ole die Verantwortung übernehmen muss, 7500 Kronen bei Øyvind Dahl, ist ohnehin schon beschlagnahmt worden. Es war aber auch ein lächerlicher Kauf. Strickjacke. Zu gar nichts zu gebrauchen. Man wurde mit so etwas nicht einmal ins Noble Dancer oder in eines der anderen neuen Lokale gelassen, auch wenn es dreimal so viel gekostet hatte wie die neuen Billigsmokings, in denen die allerdümmsten und unerfahrensten Bankleute und Makler glaubten, die unechtesten Blondinen verführen zu können. Als ob Fliegen und weiße Hemden etwas Erotisches an sich hätten! Fliegen! Er schwitzt und träumt halb vor sich hin, spinnt weiter an diesem Gedankenfaden, der ihn in Verbitterung und Größenwahn führt. Er denkt an Mozart, an nichts Geringeres. Mozart, ja! Er wird in einen Zustand der Erregung versetzt, wenn er nur daran denkt, was dieser Meister an Demütigungen ertragen musste, dass Mozart niemals die Anstellung am Hof erlangte, von der er geträumt hatte, dass er fast seine gesamte Musik, diese geniale, göttliche Musik, in tiefer finanzieller Not schreiben musste. Ja, sogar das berühmte Requiem hatte er für Geld geschrieben, weil dieser Idiot von einem Grafen aus Stuppach es selbst aufführen und so tun wollte, als habe er es geschrieben. Dass Mozart sich auf so etwas überhaupt hatte einlassen können, zeigt nur, wie unselig und unschön die Motive für neue künstlerische Schöpfungen sein konnten. Dostojewski, der seine Romane als verzweifelte Fortsetzungsgeschichten für russische Zeitschriften schrieb, um seine Spielschulden zu bezahlen. Aber was kann er tun, während er sich im Bett von einer Seite auf die andere wälzt? Bingo! von Aschehoug zurückziehen und als Fortsetzungsroman einer der Illustrierten anbieten, die seine Mutter so liebte? Wie viel könnte er dann bekommen? 3000 pro Woche? Für insgesamt 10 Kapitel? Das wären dann nicht mehr als 30 000 Kronen, nicht genug, um das Haus auf Sandøya zu retten. Und das alles muss er denken, wie er sich so im Bett von einer Seite auf die andere wälzt, und Movitz hat sich nicht einmal herabgelassen, an der Schlafzimmertür zu kratzen und seinen Schmusebedarf kundzutun. Merkt auch der Kater, dass es abwärts geht?
Der Anruf kommt überraschend. Er kommt vom liebenswerten Menschen Knut Brandstorp, dem Chefdesigner von Aschehoug, der so viele seiner Umschläge gestaltet hat, nachdem der noble Rolf Andersson aufgehört hatte, sich mit Romanvorderseiten zu befassen. Brandstorp hat ein maskulines Auftreten, das ihm anfangs das Gefühl gab, sie hätten einander nichts zu sagen. Aber dann kam es ganz anders. Und Knut, der immer seinen weißen, halblangen Mantel trägt und wie ein Mensch mit konkreten Kenntnissen wirkt, ruft just an dem Tag an, an dem er alles aus dem Griff zu verlieren scheint, als der Flieder blüht, als Sandøya so schön ist, dass der Schriftsteller Roy Jacobsen beim bloßen Anblick dieser strotzenden Idylle entlang der autolosen Wege kotzen würde. Und hier hatte er wohnen wollen!
»Aber es eilt«, sagt Knut.
»Was eilt?«, fragt er.
»Der Umschlag für deinen Roman. Der Buchclub Nye Bøker will das Buch im September bringen.«
»Nye Bøker?«
»Ja. Hat die Redaktion dir das nicht gesagt?«
»Ich hab keinen Mucks gehört.«
»Hauptbuch, du Scharlatan. Deshalb müssen wir ein Foto von dir machen. Ich denke an die alberne Jacke von Saint Laurent, mit der du vorige Woche im Verlag warst. Sie kann die Vorstellung der Laien davon unterstützen, wie ein großer Autor wirklich da draußen auf den Schären lebt, mit Katze und Kaninchen.«
Er hört sich diesen Scherz an, lässt sich nichts anmerken. Aber innerlich ist er erschüttert. Hauptbuch? Fünf Jahre lang, seit Pavane , 1976, hat er versucht, nicht daran zu denken. Stattdessen hat er stumm genickt, wenn er die Namen der Autoren hörte, die in all diesen Jahren die Auserwählten waren. Und weil er auch Musiker war, dachte er nicht so oft daran, während er zugleich wusste, dass hier eine literarische Klassengesellschaft entstand. A-Autoren und B-Autoren. Aber wie sollte man durchschauen, nach welchen Maßstäben die Mächtigen draußen in Lysaker einen Autor auswählten? Er war kein Stratege. Sein voriger Roman, Das Land auf der anderen Seite , war so introvertiert, dass die meisten Kritiker es nicht einmal bemerkt hatten. Während der langen Arbeit an Bingo! hatte er keine Sekunde lang gewagt, an den Buchclub zu denken. Die Geschichte war möglicherweise schon an sich zu haarsträubend. Außerdem spielte sich ein Großteil der Handlung in Oslo-West ab. Norwegische Literatur hatte kein Interesse an Oslo-West. Nach Johan Borgen und Axel Jensen waren ganz andere Orte in der Stadt und im Land überhaupt zur literarischen Arena geworden.
Aber er wusste, was das in klingender Münze bedeutete.
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