Ich drehe mich zum Haus um und sehe, dass es sich in ein Boot verwandelt hat, dass die grüne Plane ein Segel ist, ein riesiges Segel, das im Wind flattert. Bewahre, was, wenn der Wind so stark ist, dass das Segel zur Tragfläche wird und das Haus zum Flugzeug und abhebt, wie Tore es in seinem schlimmsten Albtraum sieht? Warum ist dieser Gedanke so verlockend, auch wenn er beängstigend ist?
Harald kommt gegen sieben Uhr morgens. Er sieht die riesige Plane an, die gerade in die Luft ragt.
»Das sieht ja nicht so gut aus«, sagt er leise.
»Ist das gefährlich?«
»Nein, das ist nur euer Haus, das kein Dach hat.«
»Ist es gefährlich, dass es kein Dach hat?«
»Nur, wenn es anfängt zu regnen.«
»Auf den Wetterbericht können wir uns nicht verlassen.«
»Nein, niemand kann sich auf den Wetterbericht verlassen. Deshalb machen wir uns besser an die Arbeit.«
Aber wir werden nicht zusammenarbeiten. Harald wird auf dem Dach sein. Die Andere wird in der Webstube sein. Ich werde in der Kammer mit dem Schreibtisch und dem Ausblick auf das Meer sitzen. In unerwarteten Situationen kommen immer die besten Ideen. Ich sehe sie plötzlich vor mir: Rosa Nordosta. Ich kenne sie. Ja, ich kenne sie besser als irgendeinen anderen Menschen. Endlich passiert etwas in meinem Kopf. Warum habe ich es nicht früher begriffen, dass ich um sie herumgekreist bin, in all diesen Wochen mit zusammenhanglosen Skizzen, ohne eine Geschichte, ohne ein konkretes Ziel. Ich kann nicht einfach mit einem Buch anfangen, ohne zu wissen, worauf ich hinauswill. Andere Autoren behaupten, das zu können, und darüber wundere ich mich jedes Mal, wenn ich es höre. Aber hatte ich nicht gerade das Gleiche gemacht? Versucht, mich auf ein Buch einzupeilen und etwas zu finden, worüber ich schreiben könnte? Nein, ich hatte etwas, worüber ich schreiben konnte. Diese Unruhe war wie eine pochende Wunde in mir. Die langen Monate in der Welt der Musik, wo die Begegnungen mit anderen Musikern Inspiration und Schutz vor belastenden Gedanken waren, warfen mich zurück in die marternde Selbstqual an der grauen Underwood oder der Remington. Während Harald mir ein Dach über den Kopf zimmerte, schrieb ich über eine Frau auf der Flucht, die von ihrer Familie fortgelaufen war, und wie deren schlafender Sohn, Jon Blund, sie wiederfinden und in sein Leben zurückholen wollte. War unser Haus ohne Dach zu einem Symbol für etwas Unbeständiges geworden, zu einem falschen Schutz, wie der, den man oft in einem Flugzeug finden konnte, wenn man ganz still auf dem Sitz vergaß, dass man mit 900 Stundenkilometern durch die Atmosphäre fegte und der Boden zehntausend Kilometer weiter unten lag?
Er schreibt über einen Menschen, der von allem wegläuft.
Ab und zu kommt Ingar, der Architekt, und sieht sich an, wie der neue Dachboden Gestalt annimmt, lässt sich beeindrucken von Zimmermann Haralds einsamen Wanderungen dort oben auf dem Haus, dem konkreten Wissen, das sich auf die Zeichnungen stützt, die geraden Striche und Winkel, alles, was Ingar vor seinem inneren Auge längst gesehen hat, das aber er oder seine Liebste unmöglich sehen können. Er schreibt also über eine Frau auf der Flucht, während er zugleich sein Leben befestigt. Die Gebrechlichkeit des Hauses gerade in diesen Wochen gibt ihm ein seltsames Gefühl, frei zu sein, unabhängig. Obwohl er über Aufbruch und Flucht schreibt, ist es nicht die Flucht, die er sich wünscht. Eher das Gegenteil. Alle, die jetzt gerade auf ein Leben auf Sandøya setzen, sagen ihm, dass auch er bald erwachsen werden muss, um wie Harald da oben auf dem Dach etwas Bleibendes zu erschaffen, um von dem zu lernen, was er sieht, dass etwas ein Tragbalken ist, ein Querlieger, und dass etwas zwei Zoll vier ist, darüber reden alle Schreiner, die zwei Zoll dicken und vier Zoll breiten Balken sind die eigentlichen Rippen eines Hauses, wenn er das richtig verstanden hat. Ja, das alles muss er lernen, denkt er, wie er so an seinem Schreibtisch sitzt und über etwas ganz anderes schreibt, diese Frau verfolgt, die durch ganz Europa flieht, wenn er sich in ihre Situation hineindenkt, etwas zu verlassen, das ihr so unendlich lieb ist. Warum tut er das? Was ist es für ein Gefühl? Er ist zu jung, um das zu wissen. Die Erfahrungen haben ihn nicht dorthin gebracht, werden es vielleicht auch niemals tun. Dennoch muss er darüber schreiben. Ist das eine Sehnsucht oder eine Warnung?
Es ist der 5. Juni 1981. In San Francisco registrieren Ärzte und Forscher zum ersten Mal die Folgen eines Virus, das zum Versagen der Immunabwehr führt, und das sie Acquired Immune Deficiency Syndrome nennen werden.
AIDS.
Noch sind die Ursachen oder die Herkunft nicht bekannt. Später wird man feststellen, dass das HI-Virus die weißen Blutkörperchen angreift. Die CD4+-Lymphozyten, die für das Abwehrsystem entscheidend sind. Innerhalb von kurzer Zeit behandeln Ärzte in San Francisco Patienten mit Entzündungen in Lunge, Speiseröhre und Netzhaut. Sie behandeln Patienten mit Lymphkrebs, Grippe, Durchfall, Pilzinfektionen, Gürtelrose und Herpes. Viele dieser Patienten sind homosexuell, Männer aus allen Gesellschaftsschichten. Schockierender und oft schneller Krankheitsverlauf. Große persönliche Tragödien. Die Patienten sterben unter den Händen der Ärzte, die nicht wissen, was sie tun sollen. Es gibt kein wirksames Gegenmittel.
In mehreren Ländern werden Forschungsgruppen eingerichtet. Neue Fälle werden in London und danach in mehreren westeuropäischen Ländern registriert.
Aber die Welt hat noch immer keine Ahnung davon, was sich hier ankündigt.
Nachts sieht er, wie das Haus Gestalt annimmt. Er träumt sich immer dicht an das heran, was in seinem Leben passiert. Viele seiner größten Konzerte hat er mehrmals gespielt, ehe er endlich auf dem Podium steht. Einige waren peinlich. Andere waren große Erfolge. Keins jedoch war wie das Konzert, das er wirklich gegeben hat und das oft weder Erfolg noch Fiasko war.
Aber diesmal träumt er nicht davon.
Er träumt von Harald.
Dem Freund. Dem Unersetzlichen. Von dem er und die Andere jetzt abhängig sind. Der Traum ist wie ein Film von Pasolini. Diese seltsame, stillstehende Stimmung, die dieser Meister oft zu erzeugen versteht. Ja, stillstehend, auch bei Wind. Starkes Sonnenlicht. Die sich wiederholenden Bewegungen der Planen. Harald wie ein Schatten dort oben auf dem Dach, zwischen den Balken. Er versucht, einen großen Balken zu heben. Ach nein, nicht den eigentlichen Tragbalken! Den größten vom Dachfirst. Harald schafft es nicht allein. Er steht unten und versucht zu rufen. Aber dann hat er keine Stimme, nur ein heiseres, fauchendes Flüstern, wie die Seehunde, wenn man Bilder von ihnen auf dem Eis sieht, unmittelbar ehe sie totgeschlagen werden.
Harald! Aufpassen! Sonst stürzt du ab!
Aber er bringt keinen Laut heraus.
Harald stürzt ab.
Die Albträume dieser Zeit sind immer Anklagen gegen ihn selbst. Er ist die Ursache dafür. Das Negative kommt aus ihm. Er verirrt sich in etwas, geht in die dunkelsten Gassen, lässt sich verlocken. Schicht um Schicht von Versuchungen, finanziellen, materiellen und fleischlichen, denen er nicht widersteht. Die Tat braucht nicht ausgeführt zu werden, aber zum Beispiel dieses Dach. Er hat Ingar freie Hand gegeben. Seit so vielen Jahren hat er Oles Methoden für richtig gehalten: Geld ist nur ein Problem, wenn man anfängt, daran zu denken. Bisher war das Geld vorhanden. Und wenn nicht, konnte er Paul anrufen und um einen Auftritt bitten oder einen Artikel für Aftenposten schreiben. Aber alles, wozu er jetzt ja gesagt hat, für sich und für die Andere, sind große Investitionen, Ausgaben, mit denen er nicht gerechnet hatte, bis ihm ganz plötzlich eines Tages aufging, dass es schiefgehen würde, dermaßen schiefgehen, dass die 100 000 Kronen, die anfangs angedeutet worden waren, zu 120 000 werden sollten, zwei Wochen später 150 000 und jetzt, da sogar die Wirklichkeit in den Albtraum übergeht: 200 000 Kronen! Eine ungeheure Summe! Und dazu ein Ding der Unmöglichkeit. Ein Beispiel versagender Urteilskraft. Er sieht sich selbst an der Tür von Bankdirektor Oddvar Pedersen kratzen und sagen, dass er, zusätzlich zu allem, was er ohnehin schon geliehen hat, noch 200 000 braucht. Pedersen wird ihn auslachen. Er muss ja gut informiert sein über die Zurück ins Grüne-Kultur auf Sandøya, wo man mit seinem Plumpsklo prahlt. Bei jedem Hammerschlag oben auf dem Dach denkt er, dass er jetzt hundert Kronen ärmer wird. Aber nicht daran müsste er denken. Sondern an den Roman, der zu allem Überfluss Bingo! heißt. Die Signale vom Verlag waren ausnahmsweise aufmunternd. Tom Kristensen, der Studienrat aus Berg, einer seiner Lieblinge in der Norwegisch-Redaktion, der für viele norwegische Autoren bereits von großer Bedeutung ist, hatte sich mit seinem ganzen Gewicht für dieses Manuskript eingesetzt und gesagt, es sei ein Zeitgemälde, das viele erreichen könnte. Diese Worte machen Eindruck. Er versuchte, den Gedanken an die Katastrophe zu verdrängen, von der er jetzt sicher war, dass sie kommen würde, dass er der Anderen sagen müsste, sie seien ruiniert, könnten ihre Rechnungen nicht bezahlen, müssten das schöne neue Haus verkaufen, müssten den Mietvertrag zu Hause bei den Eltern im Frognervei kündigen. In Norwegen müsse es billigere Wohnorte geben, Rjukan zum Beispiel, vielleicht Sulitelma, wo sie sich niederlassen, ein Haus, einen Webstuhl und ein schlichtes elektronisches Klavier mieten könnten. Vielleicht könne er ja anfangen, Erzählungen für Softpornomagazine zu schreiben.
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