Ich weiß nicht, was es war, das mich dazu brachte, ihr die Wahrheit zu sagen. Aber ich tat es.
"Ja, verdammt. Natürlich."
Nach all den Jahren, in denen es zu einer Art Aufgabe geworden war, Nathalie und auch uns selbst vor der Vergangenheit zu beschützen, hatte die Frage nach dem Sinn des jahrelangen Schweigens kurzzeitig die Oberhand gewonnen. Meine Antwort war sowohl für Nathalie als auch für mich erschreckend. Alle anschließenden Beteuerungen, dass wir erst durch ihre Geburt den Sinn des Lebens wieder gefunden haben und dass sie der neue Anfang nach einem traumatischen Ende war, verschwanden im Nichts.
Die Antwort hängt noch immer wie Blei in der Luft. Und sie folgt uns auf unserer Heimfahrt nach Köln.
*
19. August 1994
Liebes Tagebuch,
es ist zwei Uhr morgens. Ich kann nicht schlafen. Die Bandprobe hat mich so dermaßen aufgewühlt, dass ich nicht weiß, wo mir der Kopf steht. Als erstes: Theo!!! Dieser Kerl hat Augen, dass einem schwindelig wird. Ich kannte ihn ja bisher nur vom Schulhof, immerhin ist er zwei Klassen über mir, da sieht man sich nicht so oft. Aber gestern habe ich so nah neben ihm gestanden, dass ich das Gefühl hatte, jeden Moment umzukippen. Hilfe!
Er beherrscht die E-Gitarre echt fantastisch. Ich musste mich richtig zusammenreißen, um nicht jede zweite Zeile meines Textes zu vergessen. Und da liegt auch schon das Problem. Mein Gesang. Die Jungs aus der Band meinten zwar, dass ich optisch das Zeug zur Sängerin hätte, aber stimmlich wäre ich noch ziemlich am Anfang.
Potential hast du, meinte Theo. Aber du brauchst Gesangsunterricht. Tja. Was nun? Schwierig genug, meinen Eltern die Proben zu verheimlichen, aber wie kriege ich das mit dem Gesangsunterricht hin? Mein Taschengeld reicht ja so schon hinten und vorne nicht, also werde ich sie um Geld für den Unterricht bitten müssen. Aber das bedeutet auch, dass ich ihnen von der Band erzählen muss – und darauf hab ich echt absolut keinen Bock! Ich hör Mama schon sagen "Vertrödle deine Zeit nicht mit albernen Kleinmädchenfantasien. Konzentrier dich lieber auf die Hausaufgaben, bevor die nächste Sechs ins Haus steht." Dabei habe ich mich in Mathe auf ne Vier verbessern können.
Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich hab echt keine Lust auf ihre klugen Ratschläge, aber genauso wenig kann ich es riskieren, dass Theo und die Jungs sich ne andere Sängerin suchen. Vielleicht rede ich mit Papa darüber. Der ist leichter weich zu klopfen als Mama, zumindest bei solchen Sachen. Hoffentlich geht alles gut.
Fiona
*
Mein Blumenladen ist seit fünfundzwanzig Jahren derselbe. Derselbe Tresen. Dasselbe Lager. Dieselbe Inhaberin, deren Schicksal im Gegensatz zu Tresen und Lager das einzige ist, das sich im Laufe der Jahre verändert hat. Zwischen einem Nagelstudio und einem Bäcker fügt sich mein kleines Reich geradezu nahtlos in die wichtigsten Stationen des vom Alltag geplagten, vornehmlich weiblichen Einkaufsvolkes ein.
Ich führe den Laden seit meinem 26. Lebensjahr. Fast genauso lange begleitet mich Sina auf diesem Weg. Trotz geringer Bezahlung und Arbeitszeiten, die eigentlich einen höheren Verdienst rechtfertigen würden, hält sie mir seit vielen Jahren die Treue. Sie fragt nicht, wo es nichts zu fragen gibt. Sie redet nicht, wo es nichts zu reden gibt. Diesen Charakterzug an ihr habe ich besonders in schweren Zeiten zu schätzen gelernt.
Auch an meinem ersten Tag nach dem Rügen-Urlaub redet Sina nicht viel. Sie steht hinter mir im offenen Lager und bindet ein paar Mustersträuße, während ich am Tresen den Eindruck erwecke, auf Kundschaft zu warten.
Aber die Wahrheit ist, dass ich auf niemanden warte. Kunden bedeuten Umsatz, gleichzeitig aber auch Reden. Fragen nach dem Anlass für die Blumen. Nach dem Empfänger. Alter. Farben. Aber ich möchte nicht reden. Erst recht nicht fragen. Nur schweigen, während ich die Bestellliste durchgehe.
"Hoffe, euer Urlaub war schön", höre ich Sina hinter mir sagen, noch immer mit den Sträußen beschäftigt.
Ihr Kommentar ist unaufdringlich. Zu wissen, dass sie keine Antwort erwartet, macht es mir leichter, ihr eine zu geben.
"Im Grunde schon", sage ich.
"Ich hoffe, dass im Grunde überwiegt."
"Nathalie hat sich sehr über ihre Geschenke gefreut."
"Wie alt ist sie denn geworden? Vierzehn? Fünfzehn?"
"Fünfzehn", murmele ich. Fünfzehn. Die Gedanken steigen in mir auf. In den letzten zwei Tagen auf Rügen und den ersten drei in der Heimat haben Nathalie und ich nur das Nötigste an Worten gewechselt. Irgendwelche Wünsche fürs Abendessen? Kannst du mal Mathe unterschreiben? Oh, eine Zwei. Schön, mein Schatz. Doch es scheint etwas Seltsames zwischen uns zu stehen. Sie ist nicht böse. Vermutlich versteht sie meine Antwort vom Strand sogar. Ja. Vielleicht. Trotzdem macht es ihr zu schaffen, das spüre ich. Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns in der Ruhe nach oder vor dem Sturm befinden. Kein Wort zum Thema und selbst ihre Blicke deuten nichts an.
Armin hat sich auch nach unserer Rückkehr voll dem Workaholic-Dasein verschrieben. Die Artikel und Texte für das Software-Unternehmen, bei dem er arbeitet, schreibt er mit einer Besessenheit, die mir schon lange keine Angst mehr macht. Es ist seine Form des Verdrängens, die er vor sechzehn Jahren für sich entdeckt und seitdem nie wieder abgelegt hat, auch wenn sich die Art seiner Arbeit im Laufe der Jahre verändert hat. Das Internet kam, die Möglichkeiten wuchsen und mit ihnen Armins Ehrgeiz, überall dort mitzumischen, wo man ihn ließ.
Sein Ehrgeiz lässt ihn zwischenmenschliche Spannungen gekonnt übersehen. Auch die zwischen Nathalie und mir. Ich könnte ihn darauf ansprechen. Mit ihm reden. Doch ich weiß, dass es die Sache nicht ändern würde. Was nützt es mir, geschweige denn ihm, wenn wir die Situation zu zweit analysieren? Verdrängen ist leichter ohne Worte.
Und wieder liegt es an mir, eine Mutter zu sein, die ich nicht bin. Eine Mutter, die ihrer Tochter dabei hilft, die Welt zu verstehen. Ist es nicht das, was eine gute Mutter ausmacht? Eigene Gefühle, den eigenen Schmerz hinten anzustellen?
Und wie weit bin ich davon entfernt, eine solche Mutter zu sein?
Meine eigene Schwäche macht mich beinahe wütend. Reiß dich zusammen, Dascha. Mein altbekanntes und so vertrautes Motto, das ich mir nicht selten wie ein Mantra vormurmele. Reiß dich zusammen!
"Fünfzehn", brummt Sina aus dem Lager. "Das nenne ich mal ein hübsches Alter. Hat sie eigentlich schon einen Freund, die Kleine?"
Ich wundere mich über Sinas Redseligkeit, die nicht so recht zu ihr passen will. Ob sie merkt, dass ich noch kürzer angebunden bin als sonst?
"Na ja, du kennst das. Hier und da ein süßer Typ in der Schule. Das kriege ich aber nur zur Hälfte mit und auch nur mit ganz viel Nachbohren."
Sina lacht. "Ja ja, die Jugend von heute."
Die Jugend von heute. Ich frage mich, inwiefern sie anders ist als die Jugend von damals. Anders als die Jugend vor sechzehn Jahren.
Mein Blick fällt auf die Margeriten in der Nähe der Tür. Ich werde Nathalie ein paar davon mit nach Hause nehmen. Sie liebt Margeriten.
*
"Danke, Mama. Sie sind toll."
Nathalies Stimme klingt mechanisch, als ich die Vase mit den Margeriten auf ihren Schreibtisch stelle. Sie sitzt mit angewinkelten Beinen auf ihrem Bett.
"Ich dachte, die Blumen holen dir ein kleines bisschen Frühling ins Haus."
"Wohl eher den Sommer."
"Vielleicht auch das", sage ich lächelnd.
Ihr Blick, der mir schon beim Betreten des Zimmers nicht wirklich gehört hat, wandert zurück in Richtung Fenster.
"Wir wollen Pizza bestellen. Papa ist auch schon unterwegs. Hast du Lust auf Peperoni?"
Sie schüttelt den Kopf. "Hab vorhin bei Jenny schon was gegessen."
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