Nancy Salchow
DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL
Liebesroman
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Nancy Salchow DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL Liebesroman Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Impressum neobooks
Manchmal, wenn ich nachts nicht schlafen kann, lasse ich meine Gedanken zu einer Art Vorstufe des Träumens verschwimmen. Dann bist du da, als wäre nichts geschehen. Ich wundere mich nicht einmal, dass du da bist. Deine Anwesenheit ist so selbstverständlich, dass ich nicht darüber nachdenken muss. Du stehst in der Küche, während ich im Arbeitszimmer am Laptop sitze. Durch die offene Tür sehe ich, wie du Tomaten schneidest. Irgendwo in meinem Augenwinkel. Eigentlich sehe ich dich gar nicht. Es ist einfach nur das Wissen, dass alles normal ist. So normal, wie die Welt nur sein kann. Weil du da bist. Einfach da.
Es war Herbst geworden, bevor er sich an den Sommer gewöhnen konnte. Die vergangenen zwölf Monate waren wie eine einzige nahtlose Jahreszeit an ihm vorübergezogen und hatten jedes Zeitgefühl verschwinden lassen. Lediglich die glänzenden Kastanien und rostbraunen Blätter auf dem Garagendach, das direkt unter seinem Fenster lag, deuteten den Beginn eines neuen Abschnitts an. Eines Abschnitts, dem er weder mit Furcht noch mit Freude entgegensah. Beinahe kam es ihm vor, als hätte er sich im Laufe des Jahres all seiner Emotionen entledigt. Wie der Baum all seiner Blätter.
„Bist du dir sicher, dass ich dich nicht zum Bahnhof bringen soll?“ Sie stand mit einem Geschirrtuch über dem Arm in der Tür.
„Ich nehme ein Taxi“, antwortete er, ohne sich vom Fenster abzuwenden. „Abschiedsszenarien am Bahngleis liegen mir nicht.“
„Die Kinder fragen, ob du mit ihnen vorher noch eine Runde Basketball spielst.“
„Mein Rücken bringt mich um, Marie. Außerdem habe ich das Taxi bereits bestellt. Es müsste jeden Moment da sein.“
„Jetzt schon? Aber ich dachte, wir würden noch zusammen essen.“ Ihre Stimme erhob sich, um sich im selben Moment wieder zu senken. Sie wusste, dass sie keine Chance hatte, ihren Bruder umzustimmen, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Zumindest nicht den Bruder, der zwölf Monate lang ihr Gästezimmer bewohnt hatte. Früher vielleicht, ja. Früher wäre er zum Essen geblieben. Sie wären zum Essen geblieben.
Er drehte sich um und lächelte das einzige Lächeln, das sie innerhalb des letzten Jahres zu sehen bekommen hatte. Ein bemühtes, mechanisches Lächeln. Dennoch hatte sie gelernt, es zu schätzen. Ein mechanisches Lächeln war besser als gar keines.
„Ich bin dir sehr dankbar“, sagte er. „Für alles, was du für mich getan hast. Ohne dich hätte ich das letzte Jahr nicht überstanden.“
„Das war selbstverständlich, Simon“, antwortete sie leise.
„War es nicht.“ Er ging einen Schritt auf sie zu. „Ich war ein Teil deiner eigenen kleinen Familie. Und sicher nicht immer ein angenehmer.“
Ihr Blick fiel auf den Koffer neben dem Bett.
„Du hast schon gepackt?“
„Wie gesagt, das Taxi.“
Sie nickte.
„Hör mal, Marie. Du darfst dir nicht so viele Sorgen machen. Es geht mir gut. Wirklich.“
Nun war sie es, die sich um ein Lächeln bemühte. „Ich weiß. Trotzdem. Du wirst uns fehlen.“ Sie berührte seinen Arm. „Aber an Weihnachten, an Weihnachten kommst du doch, oder?“
„Natürlich. Die Wunschzettel der Kinder liegen schon im Koffer.“
Sie suchte seinen Blick. Dieselben dunklen Augen, die ihn schon in Kindertagen fixiert hatten, wann immer sie sich Sorgen um ihn machte. Wie damals fiel ihr das schwarze Haar in widerspenstigen Locken auf die schmalen Schultern und erinnerte ihn für einen Moment an vergangene, an unbeschwerte Tage. Wortlos schauten sie sich an. Vielmehr war sie es, die ihn anschaute. Er hatte sich das wirkliche Sehen im Laufe der letzten Monate abgewöhnt. Er nahm zur Kenntnis, aber er hatte aufgehört, wirklich wahrzunehmen . Mit einer ungeschickten Umarmung kam er dem Wort zuvor, das sie erneut an ihn richten wollte. Er wollte nicht mehr reden. Nicht jetzt. Es war an der Zeit, den Schritt in ein neues Leben zu wagen. Ein Leben, das eigentlich kein neues, sondern die Imitation eines alten Lebens war. Eine Imitation seines Lebens.
Von der Auffahrt her ertönte ein Hupen. Eine Schar von Vögeln brach aufgescheucht aus dem Baum hervor.
Es wurde Zeit.
Es war das erste Mal seit seinem Umzug zu Marie, dass er den Schlüssel zu seinem eigenen Haus in den Händen hielt. Seine Nachbarin Frau Jäger hatte sich in der Zwischenzeit um seinen Garten gekümmert, zumindest um das, was davon übrig geblieben war. Auch die Fenster machten den Eindruck, erst vor kurzem geputzt worden zu sein. Er selbst jedoch hatte seit einem Jahr keinen Fuß mehr über die Türschwelle gesetzt.
Auf der letzten Stufe zögerte er für einen Moment. Der Schlüsselanhänger, ein alberner Stoffbär mit Zylinder, hing seltsam vertraut zwischen seinen Fingern herab, als hätte er ihn nie zur Seite gelegt. Mit einem tiefen Atemzug steckte Simon schließlich den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.
Er erinnerte sich daran, das Haus damals überstürzt und in unverändertem Zustand verlassen zu haben; trotzdem traf ihn der vertraute Anblick heftiger als erwartet. Emmas Pantoffeln neben der Küchentür. Ihre Wildlederstiefel vor der Heizung. Die dunkelblaue Strickjacke an der Garderobe. Ein leichter Windzug verstummte, als er die Tür hinter sich schloss. Mit vorsichtigen Schritten durchquerte er den Flur, bis er die Küche erreichte. Auf dem Tisch stand ein frischer Strauß Chrysanthemen. Frau Jäger. Sicher hatte sie die Blumen erst am Morgen in die Vase gestellt.
Doch der Gedanke an die Fürsorglichkeit seiner Nachbarin verblasste schnell unter den erdrückenden Bildern, die das Haus ihm bot. Das hellblaue Wachstuch auf dem Tisch. Die grüne Salatschüssel auf dem Kühlschrank, die Emma erst letzten Sommer dort abgestellt hatte. Zu wenig Platz in der Schublade, hatte sie geschimpft.
Er unterdrückte das Bedürfnis, sich auf einen der Stühle fallen zu lassen. Sich fallen zu lassen käme dem Versinken in Selbstmitleid gleich. Und er wollte nicht versinken, weder in Selbstmitleid noch in quälenden Erinnerungen! Sie ist fort. Und kein selbstzerstörerischer Gedanke wird sie dir zurückbringen.
Er verließ die Küche, um sich ins obere Stockwerk zu begeben, beherrscht von dem Drang, das Haus möglichst zügig zu mustern und jede Konfrontation schnell hinter sich zu bringen. Direkt neben der Treppe fiel sein Blick auf den Wandspiegel. Abrupt blieb er stehen. Für den Bruchteil einer Sekunde schien ihm das Bild des Mannes im Spiegel vertraut. Wie eine blasse Erinnerung an vergangene Tage drängte es sich in sein Bewusstsein, scheiterte aber im selben Augenblick an der mühsam erlernten Kunst des Verdrängens. Schnell wurde aus der Erinnerung an einen alten Bekannten wieder dasselbe konturlose Gesicht, das ihn seit Monaten bei den seltenen Blicken in den Spiegel ansah. Keine Mimik. Nicht mal der Ansatz einer Emotion.
Die zwei kleinen Falten zwischen den Augenbrauen, ein Resultat jahrelanger konzentrierter Arbeit am Bildschirm. Die tiefen Schatten unter den Augen, die sich von gelegentlicher Anwesenheit am Morgen zu einer dauerhaften Erscheinung entwickelt hatten. Das dunkle, leicht zerzauste Haar, das nach Meinung seiner Schwester in etwas zu lang geratene Koteletten überging. Insgesamt ein wenig eindrucksvoller Anblick. Aber wie viel ist ein Eindruck wert, wenn es niemanden mehr gibt, den es zu beeindrucken gilt?
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