Auch Casaubon bildete den Mittelpunkt seiner eigenen Welt; wenn er gleichwohl den Gedanken hegte, daß Andere von der Vorsehung dazu bestimmt seien seinen Zwecken zu dienen und sie namentlich aus dem Gesichtspunkte ihrer Brauchbarkeit für den Autor des »Schlüssel zu allen Mythologien« betrachtete, so war das ein uns nicht fremder Zug, welcher, wie alle kümmerlichen Hoffnungen sterblicher Menschen, Anspruch aus unser Mitleid hat.
Sicherlich berührte ihn die Angelegenheit seiner Heirat mit Dorotheen näher, als irgend eine der Personen, welche sich bis jetzt mit derselben unzufrieden erklärt haben, und in diesem Augenblicke empfinde ich eine lebhaftere Sympathie für seine Erfolge, als für die Enttäuschung des liebenswürdigen Sir James. Denn in Wahrheit war die Stimmung Casaubons, als der für seine Hochzeit festgesetzte Tag näherrückte, keine gehobene und er fand die Aussicht auf den Garten der Ehe, in welchem doch die Wege von Blumen eingehegt sein sollten, bei anhaltender Betrachtung nicht reizender, als die Gruftgewölbe, in welchen er, die Kerze in der Hand, zu wandeln gewohnt war. Er gestand es sich selbst nicht und würde es noch weniger einem Andern gegenüber auch nur angedeutet haben, wie überrascht er durch die Erfahrung war, daß er zwar ein edles und großgesinntes Mädchen, aber keine neue Freude, welche er doch auch zu finden gehofft hatte, gewonnen habe. Er kannte zwar alle das Gegenteil behauptenden Stellen der Klassiker, aber die Lektüre der Alten wird meistens in einer Weise betrieben, welche hinreichend erklärt, warum den treffendsten Stellen ihrer Werke so wenig Kraft zur Anwendung auf uns selbst bleibt.
Der arme Casaubon hatte sich eingebildet, daß er in seinem langen fleißigen Junggesellenleben die Freude mit Zins auf Zins für sich angesammelt habe und daß große Wechsel auf die Befriedigung seiner Neigungen unfehlbar honoriert werden würden; denn wir Alle, seien wir ernst oder leichtgesinnt, bewegen uns in unserm Denken in Bildern und handeln verhängnisvoll unter ihrem Einfluss. Und jetzt war er in Gefahr, grade durch die Vorstellung betrübt zu werden, daß sein neues Verhältnis ihm ein außerordentliches Glück bringen werde; in den äußern Umständen lag nichts, was einen gewissen Mangel in seiner Empfindung hätte erklären können, welchen er in der Zeit, wo er die gewohnte Stille seiner Lowicker Bibliothek gegen seine Besuche in Tipton-Hof vertauschte, also grade in dem Augenblicke empfand, wo er nur voll freudiger Hoffnung hätte sein sollen. Das war eine traurige Erfahrung, durch welche er sich ebenso entschieden zur Einsamkeit verdammt fühlte, wie in den Momenten der Verzweiflung, welche ihn bisweilen überkam, wenn er sich in seinem Werke wie in einem Sumpfe durchzuarbeiten hatte, ohne anscheinend seinem Ziele näher zu kommen.
Und seine Einsamkeit war die traurigste von allen; denn sie schreckte vor sympathischer Teilnahme zurück. Er mußte wünschen, daß Dorothea ihn für nicht weniger glücklich halte, als er, ihr erfolgreicher Bewerber, der Welt erschien und, soweit seine schriftstellerische Tätigkeit in Betracht kam, lehnte er sich gern an ihr jugendlich ehrfürchtiges Vertrauen; er gefiel sich darin, ihr im Zuhören kundgegebenes frisches Interesse als ein Mittel der Aufmunterung für sich selbst anzusehen und wenn er zu ihr sprach, entwickelte er ihr alle seine Arbeiten und Intentionen in dem wohlüberlegten zuversichtlichen Tone des Pädagogen und befreite sich dabei für den Augenblick von jener eingebildeten Zuhörerschaft, welche ihn in seinen unproduktiven Arbeitsstunden in Gestalt von höllischen Schatten beklemmend umdrängte.
Denn für Dorothea, welche von der Weltgeschichte bisher nichts anderes kannte, als das Kinderspielzeug, welches man eine für junge Damen berechnete Darstellung der Geschichte nennt, wie sie den Hauptbestandteil auch ihres Unterrichts ausgemacht hatte, waren die Mitteilungen Casaubons über sein großes Werk voll von neuen Anschauungen, und dieser Eindruck einer ihr werdenden Offenbarung, die Überraschung, welche ihr die nähere Bekanntschaft mit Stoikern und Alexandrinern, als Leuten, welche den ihrigen nicht ganz unähnliche Ideen gehabt hatten, bereitete, gewährte ihrem eifrigen Streben nach einem ihr eigenes Leben und ihren Glauben mit jener gewaltigen Vergangenheit verbindenden Elemente, durch welches die entlegensten Quellen des Wissens Einfluß aus ihre Handlungen gewinnen könnten, eine augenblickliche Befriedigung.
Der vollständigere Unterricht würde folgen, Alles was ihr noch fehlte, würde Casaubon ihr mitteilen; sie sah der tieferen Einweihung in die Welt der Ideen entgegen, wie sie der Ehe entgegen sah, und vermengte ihre unklaren Vorstellungen von Beidem. Es würde ein großer Irrtum sein, zu glauben, daß Dorothea nach einem Anteil an Casaubons Wissen nur aus dem Gesichtspunkt einer Vervollkommnung ihrer Bildung verlangt hätte; denn obgleich das allgemeine Urteil der Bewohner Tiptons und Freshitts sie als sehr begabt bezeichnete, würde doch dieses Beiwort sie nur unzulänglich für solche Kreise charakterisiert haben, in deren präziser definierendem Wörterbuche Begabtheit eine vom Charakter ganz unabhängige Fähigkeit sich Kenntnisse anzueignen und verständig zu handeln bedeutet.
All ihr Streben nach Vervollkommnung ihres Wissens war nur ein Ausfluss jenes vollen Stromes sympathischen inneren Lebens, von welchem ihre Ideen und Antriebe getragen wurden. Sie trug kein Verlangen danach, sich Kenntnisse wie ein neues Kleid anzulegen, sie sich anzueignen außer Zusammenhang mit den Nerven und dem Blute, welche ihre Tatkraft belebten, und wenn sie ein Buch geschrieben hätte, so würde sie das nur, wie es die heilige Therese getan, unter dem gebietenden Einfluss einer ihr Gewissen bindenden Autorität haben tun können. Aber wonach sie Verlangen trug, das war etwas, was ihr Leben mit einem zugleich verständigen und feurigen Handeln ausfüllen möchte, und da die Zeit leitender Visionen und geistlicher Führer vorüber war, da das Gebet wohl ihr Sehnen, aber nicht ihr Wissen steigerte, – wo anders sollte sie Erleuchtung suchen, als in Kenntnissen? Gewiß, konnten nur gelehrte Männer die Hüter des Lichtes sein, und wer war gelehrter als Casaubon!
So blieben während dieser kurzen Wochen Dorotheens freudige und dankbare Erwartungen ungetrübt, und wenn auch ihren Geliebten bisweilen ein Gefühl der Leere überkam, so konnte er dieselbe doch niemals einer Abnahme ihres von Liebe getragenen Interesses Schuld geben.
Die Milde der Jahreszeit begünstigte den Plan, die Hochzeitsreise bis Rom auszudehnen, und Casaubon lag sehr an der Ausführung dieses Plans, weil er einige Manuskripte in der vatikanischen Bibliothek einzusehen wünschte.
»Ich bedaure noch immer, daß Deine Schwester uns nicht begleiten will,« sagte er eines Morgens zu Dorotheen, nachdem es sich kurz zuvor herausgestellt hatte, daß Celia keine Lust zu der Reise habe, und daß Dorothea ihre Begleitung gar nicht wünsche. »Du wirst viele einsame Stunden haben, Dorothea, denn ich werde genötigt sein, so viel wie möglich von meiner Zeit für meine wissenschaftlichen Zwecke zu verwenden, und ich würde mich freier fühlen, wenn Du Gesellschaft hättest.«
Die Worte: »ich würde mich freier fühlen,« verletzten Dorothea. Zum ersten Male begegnete es ihr in einer Unterhaltung mit Casaubon, daß sie vor Verdruss errötete.
»Du mußt mich ganz mißverstanden haben,« sagte sie, »wenn Du glaubst, ich würde den Wert Deiner Zeit nicht zu schätzen wissen, wenn Du glaubst, ich würde nicht gern auf Alles verzichten, was Deiner Benutzung derselben zu den besten Zwecken im Wege stehen könnte.«
»Das ist sehr liebenswürdig von Dir, liebe Dorothea,« erwiderte Casaubon, dem es völlig entgangen war, daß er sie verletzt hatte; »aber wenn Du eine Dame zu Deiner Gesellschaft hättest, könnte ich Euch Beide unter die Obhut eines Cicerone stellen und wir würden so in derselben Zeit zwei Zwecke auf einmal erreichen können.«
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