Es versteht sich von selbst, daß Herr Lydgate dieses Gespräch nicht mit anhörte. Er hatte die Gesellschaft schon zeitig verlassen, und würde dieselbe höchst langweilig gefunden haben, hätten ihn nicht einige neue Bekanntschaften, namentlich die von Fräulein Brooke interessiert, deren jugendlich blühendes Wesen, in Verbindung mit ihrer bevorstehenden Heirat mit jenem bleichen Gelehrten, und ihrem Interesse für soziale Fragen, ihr den Reiz einer ungewöhnlichen Erscheinung verliehen.
»Ein herzensgutes Wesen, dieses schöne Mädchen aber ein bisschen zu ernsthaft,« dachte er. »Es ist mühsam, sich mit solchen Frauen zu unterhalten. Sie verlangen immer Gründe; sind aber doch zu unwissend, die wahre Bedeutung irgend einer Frage zu verstehen, und verfallen in der Regel immer wieder in ihre angeborene Neigung, sich die Dinge zurecht zu legen, wie es ihnen zusagt.«
Offenbar war Fräulein Brooke's so wenig für Herrn Lydgate, wie für Herrn Chichely, die Art von Mädchen, die ihm gefiel. Allerdings war sie auch, wenn man sie vom Standpunkte eines so gereiften Geistes, wie Herr Chichely es war, aus betrachtete, ein völliger Missgriff der Natur, welcher ihn in seinem Vertrauen auf die Zwecke der Vorsehung, zu welchen doch auch die Bestimmung hübscher junger Mädchen für lebenslustige Junggesellen gehörte, wohl irre machen konnte.
Aber Lydgate war noch nicht so gereift, und konnte möglicherweise noch Erfahrungen im Leben machen, welche seine Ansichten über das, was an einer Frau vor Allem zu schätzen sei, modifizieren könnten. –
Indessen sollte Fräulein Brooke keinen dieser beiden Herren als Mädchen wieder begegnen. Nicht lange nach dieser Mittagsgesellschaft war sie Frau Casaubon geworden, und hatte alsbald ihre Reise nach Rom angetreten.
But deeds and language such as men do use,
And persons such as comedy would choose,
When she would show an image of the times,
And sport with human follies, not with crimes.
Ben Jonson: Everyman in His Humour
Lydgate war in jenem Augenblicke schon von einem Mädchen bezaubert, welches von Fräulein Brooke grundverschieden war; er meinte zwar keineswegs sein moralisches Gleichgewicht verloren zu haben und verliebt zu sein, aber er hatte von diesem Mädchen gesagt: »Sie ist die Grazie selbst, sie ist höchst anmutig und reizend. So muß eine Frau sein, sie muß auf uns wirken wie herrliche Musik.«
Häßliche Frauen betrachtete er, wie die übrigen schweren Probleme des Lebens, als einen Gegenstand philosophischer Resignation und wissenschaftlicher Forschung Aber Rosamunde Vincy schien ihm den echten Reiz einer schönen Melodie zu haben und wenn ein Mann einmal das Mädchen gefunden hat, welches er gewählt haben würde, wenn er die Absicht gehabt hätte, sich bald zu verheiraten, so hängt die Fortdauer seiner Junggesellenschaft gewöhnlich mehr von ihrem als von seinem Entschluss ab.
Lydgate glaubte, er werde sich noch in den nächsten Jahren nicht verheiraten, nicht eher, als bis er sich selbst einen sicheren, von der breiten Heerstraße abliegenden Weg gebahnt haben würde. Er kannte Fräulein Vincy fast schon eben so lange Zeit, wie Casaubon gebraucht hatte, sich zu verloben und zu verheiraten; aber dieser gelehrte Herr besaß ein Vermögen; er hatte Bände voll Notizen gesammelt, und hatte sich jene Art von Ruf erworben, welche der Ausführung einer Arbeit voran geht – jenen Ruf, welcher so oft den Hauptbestandteil des Ruhms eines Mannes bildet. Er nahm sich, wie wir gesehen haben, eine Frau, auf daß sie ihm das noch übrige Viertel seines Lebens verschönere und ihm als ein kleiner Mond leuchte, welcher eine kaum berechenbare Störung seines Kreislaufs verursachen würde.
Aber Lydgate war jung, arm und ehrgeizig. Er hatte noch nicht, wie Casaubon, sein halbes Jahrhundert hinter sich und war mit der Absicht nach Middlemarch gekommen, viele Dinge zu unternehmen, welche nicht direkt darauf abzielten, ihm ein Vermögen zu schaffen, oder auch nur ihm ein gutes Einkommen zu sichern. Für einen Mann in solchen Verhältnissen bedeutet seine Verheiratung etwas mehr als eine Frage der Verschönerung des Lebens, wie hoch er auch diese schätzen möge, und Lydgate war geneigt, sie als die höchste Aufgabe einer Frau zu betrachten.
Nach seiner aus einer einzigen Unterhaltung geschöpften Ansicht war dies der Punkt, wo Fräulein Brooke, trotz ihrer unleugbaren Schönheit, zu wünschen übrig ließ. Sie betrachtete die Dinge nicht aus dem nach seiner Ansicht für Frauen angemessenen Gesichtspunkte. Die Gesellschaft solcher Frauen schien ihm ungefähr eine so gute Erholung, wie wenn man nach schwerer Arbeit daran gehen müßte, Lektionen in Quinta zu geben, anstatt sich in einem Paradiese auszuruhen, in welchem liebliches Lachen den Vogelgesang und blaue Augen den Himmel verträten.
Im gegenwärtigen Augenblicke war für Lydgate die geistige Natur Fräulein Brooke's gewiß ebenso wenig wichtig, wie für Fräulein Brooke das Wesen des Mädchens, welches den jungen Arzt angezogen hatte. Aber Jeder, der aufmerksam beobachtet hat, wie die menschlichen Schicksale im Geheimen und langsam ihrer Verkettung entgegen gehen, weiß auch, wie sich die Einflüsse eines Lebens auf das andere sachte vorbereiten und erkennt darin eine bittere Ironie auf die Gleichgültigkeit und das frostige Anstarren, mit welchem wir unseren Nebenmenschen, wenn sie uns nicht vorgestellt sind, zu begegnen pflegen. Mit sarkastischem Lächeln steht das Schicksal, den Personenzettel unseres Lebensdrama's zusammengefaltet in der Hand, bei Seite.
Auch die damalige Gesellschaft in der Provinz zeigte vielfach die Spuren dieses leisen Wechsels der Geschicke. Sie hatte nicht nur ihre gewaltigen Schicksalsschläge; die Fälle, wo die beliebtesten jungen Dandys damit endigten, sich mit einem hergelaufenen Weibe und sechs Kindern in einer Mansardenkammer niederlassen zu müssen, sondern auch jene weniger in die Augen springenden Wechselfälle, welche die Grenzen des gesellschaftlichen Verkehrs beständig verrücken, und den Menschen fortwährend das Bewusstsein ihrer Abhängigkeit von einander aufdrängen. Einige sanken ein wenig, andere arbeiteten sich herauf; Leute, die ihre Muttersprache nicht richtig zu sprechen verstanden, wurden reich und stolze Herren kandidierten als Abgeordnete von Wahlflecken; einige sahen sich von politischen, andere von kirchlichen Strömungen fortgerissen und fanden sich in Folge dessen vielleicht in wunderlicher Gesellschaft, während die wenigen Personen oder Familien, welche inmitten all dieser schwankenden Verhältnisse felsenfest standen, sich doch auch trotz ihrer Solidität allmählich umgestalteten und den zwiefachen Wechsel ihrer selbst und derer, welche sie beobachteten, zu erfahren hatten. Munizipalstädte und ländliche Kirchspiele knüpften langsam neue Verbindungen an, – langsam, wie die alten Strümpfe, in welchen früher die Ersparnisse aufbewahrt zu werden pflegten, den Sparbanken wichen und wie die Anbetung der alten Guinea verschwand – während Squires und Baronets und selbst Lords, welche einstmals in untadeliger Abgeschlossenheit gelebt hatten, sich eine nähere Berührung mit dem bürgerlichen Elemente zu Schulden kommen ließen. Auch neue Ansiedler kamen aus verschiedenen Grafschaften herbei, einige mit beunruhigend neuen Fertigkeiten, andere mit einem beleidigendem Vorsprung an Schlauheit.
In der Tat ging in Alt-England eine ähnliche Bewegung und Vermengung der Menschen vor sich, wie sie uns Herodot berichtet, welcher, bei seiner Erzählung dessen, was ehedem geschehen war, es auch angemessen fand, das Schicksal eines Weibes zum Ausgangspunkte zu nehmen; freilich war Jo, als ein offenbar durch schöne Geschenke verlocktes Mädchen, das Gegenteil von Fräulein Brooke und bot in dieser Beziehung vielleicht mehr Ähnlichkeit mit Rosamunde Vincy dar, die einen ausgezeichneten Geschmack für Toilette und jene nymphenartige Gestalt, jenes reine Blond des Haares und des Teints hatte, welches für die Mannigfaltigkeit des Faltenwurfes und der Farbe der Stoffe den freiesten Spielraum ließ.
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