»Komm, liebe Celia, gib mir einen Kuss!«
Celia kniete nieder, um auf gleicher Höhe mit Dorotheen zu sein, der sie dann mit einem Spitzmündchen einen Kuss gab, während diese sie, mit ihren Armen sanft umschlang und sie ernst auf beide Wangen küßte.
»Bleibe nicht lange aus, Dora, Du siehst heute Abend so bleich aus; geh' bald zu Bett,« sagte Celia in einem ganz gemütlichen Tone, ohne eine Spur von Erregung.
»Nein, liebe Celia, ich bin sehr, sehr glücklich,« erwiderte Dorothea sehr innig.
»Desto besser,« dachte Celia; »aber wie sonderbar Dora von einem Extrem ins andere verfällt!«
Am nächsten Tage beim zweiten Frühstück sagte der Butler, indem er Herrn Brooke Etwas überreichte: »Jonas, der eben wieder nach Hause gekommen ist, überbringt diesen Brief, Herr.«
Herr Brooke las den Brief und sagte dann, indem er Dorotheen zunickte: »Von Casaubon, liebes Kind, er kommt heute zu Tisch; er hat sich nicht die Zeit genommen, mehr zu schreiben, – nicht die Zeit genommen, weißt Du.«
Es konnte Celien nicht auffallen, daß das zu erwartende Eintreffen eines Mittagsgastes ihrer Schwester vorher mitgeteilt wurde; als sie aber Dorothea bei der Bemerkung ihres Onkels ansah, wurde sie von der eigentümlichen Wirkung, welche die Meldung ersichtlich auf ihre Schwester hervorgebracht hatte, frappiert. Es war, als ob der Wiederschein eines weißen, sonnenbeleuchteten Flügels über ihr Antlitz gefahren wäre, um alsbald einem, bei ihr so seltenen Erröten zu weichen. Zum ersten Male kam Celien der Gedanke, daß doch hinter dem Interesse, welches Herr Casaubon und Dorothea an einander nahmen, vielleicht mehr stecken möchte, als seine Liebhaberei für gelehrte Vorträge und ihre Wonne, ihm zuzuhören. Bisher hatte sie Dora's Bewunderung für diesen gelehrten und häßlichen Mann auf eine Linie mit ihrer Bewunderung für Herrn Liret in Lausanne, der auch ein häßlicher und gelehrter Mann war, gestellt. Dorothea war nie müde geworden, dem alten Herrn Liret zuzuhören, während Celien's Füße eiskalt wurden und ihr der Anblick der beweglichen Haut auf der Glatze des Geistlichen ganz unerträglich war. Warum also sollte Dorothea sich nicht in derselben Weise, wie für Herrn Liret, auch für Herrn Casaubon begeistern? Und es schien ja, daß alle gelehrten Männer dieselbe schulmeisterliche Art, mit jungen Leuten umzugehen, hatten.
Aber jetzt hatte der plötzlich in Celien auftauchende Verdacht sie wirklich erschreckt. Es begegnete ihr selten, sich in dieser Weise überrascht zu sehen, da ihr wunderbarer Scharfblick für gewisse Symptome sie in der Regel auf Ereignisse, die ein Interesse für sie haben konnten, im Voraus gefaßt machte. Auch jetzt kam es ihr noch nicht in den Sinn, daß Dora Casaubon's Bewerbung bereits angenommen habe; aber der bloße Gedanke an die Möglichkeit, daß sich in Dora's, Gemüt etwas regen möchte, was zu einem solchen Ausgang führen könnte, erfüllte sie mit Widerwillen. Dieser Gedanke konnte sie wirklich gegen Dora verstimmen. Mochte sie immerhin Sir James Chettam's Antrag verwerfen; aber die Idee Casaubon zu heiraten! Celia empfand eine Art von Scham, welche durch den Eindruck des Lächerlichen, den ihr die ganze Vorstellung machte, nicht gemildert wurde. Vielleicht aber ließ sich Dora, wenn sie wirklich in Gefahr war, sich zu einer solchen Extravaganz hinreißen zu lassen, noch wieder davon abbringen. Celia wußte aus Erfahrung, wie sehr Dorothea sich von augenblicklichen Eindrücken beherrschen ließ.
Es war ein regnerischer Tag, sie gingen daher nicht spazieren, sondern begaben sich Beide auf ihr Wohnzimmer. Hier fiel es Celien alsbald auf, daß Dorothea, anstatt sich wie gewöhnlich mit ihrem eifrigen Interesse einer stetigen Beschäftigung zu widmen, sich an's Fenster setzte und, den Arm auf ein offenes Buch gestützt, nach einer von feuchtem Nebel umhüllten, hohen Zeder hinausblickte. Celia selbst beschäftigte sich mit der Herstellung eines Spielzeuges für die Kinder des Pfarrvikars und hatte keine Eile mit der Herbeiführung eines Gesprächs über den bewußten Gegenstand.
Dorothea ihrerseits sagte sich, daß es doch wünschenswert für Celia sei, etwas von der wichtigen Veränderung, welche seit Casaubon's letzter Anwesenheit in seinem Verhältnis zu ihr eingetreten war, zu erfahren. Es schien ihr nicht in der Ordnung, Celia im Dunkeln über etwas zu lassen, was auf ihre eigene Haltung ihm gegenüber notwendig von Einfluß sein mußte, und doch schreckte sie vor dem Gedanken, Celien die Sache mitzuteilen, zurück. Dorothea warf sich selbst diese Scheu als ihrer unwürdig vor; es war ihr immer zuwider, sich in ihren Handlungen durch kleinliche Besorgnisse und Rücksichten behindern zu lassen; in diesem Augenblicke aber rang sie danach, sich durch den höchsten Beistand gegen die Furcht vor der ätzenden Lauge der prosaischen Anschauungen Celien's zu waffnen.
Sie wurde aus ihren Träumereien aufgeschreckt und der Schwierigkeit eines Entschlusses überhoben, als Celia sie mit ihrer kleinen, etwas schnurrenden Stimme, im Tone einer beiläufigen Bemerkung fragte:
»Kommt noch außer Herrn Casaubon Jemand zu Tisch?«
»Nicht daß ich wüßte.«
»Ach, wenn doch nur noch Jemand käme! Dann brauchte ich es doch nicht so deutlich zu hören, wie Herr Casaubon seine Suppe schlürft.«
»Wieso, tut er das auf besondere Weise?«
»Beste Dora, hörst Du denn nicht, wie er seinen Löffel aussaugt? – Und wenn er etwas sagen will, blinzelt er immer vorher mit den Augen. Ich weiß nicht, ob Locke auch geblinzelt hat, aber wenn er es getan hat, bedaure ich die, welche ihm gegenüber sitzen mußten.«
»Ich bitte Dich, Celia,« sagte Dorothea mit emphatischem Ernst, »mache solche Bemerkungen nicht mehr!«
»Warum denn nicht? Sie sind doch ganz richtig,« erwiderte Celia, welche ihre Gründe hatte, in dieser Weise fortzufahren, obgleich es ihr dabei ein wenig schwül zu werden anfing.
»Es gibt viele richtige Bemerkungen, welche aber doch nur von Menschen niedriger Sinnesart gemacht werden.«
»Wenn das der Fall ist, scheint es mir doch, daß die Menschen von niedriger Sinnesart auch ihr Gutes haben. Ich finde es bedauerlich, daß Herrn Casaubon's Mutter nicht eine niedrigere Sinnesart hatte, dann würde sie ihn vielleicht besser erzogen haben.«
Kaum hatte Celia diesen Wurfspieß geschleudert, als sie, eine innere Angst überkam und sie gern davon gelaufen wäre.
Dorothea's verletzte Empfindlichkeit war nachgerade so lawinenartig angeschwollen, daß von einer vorbereitenden Mitteilung jetzt nicht mehr die Rede sein konnte.
»Ich darf Dir wohl nicht länger verschweigen, Celia, daß ich mit Herrn Casaubon verlobt bin.«
Celia erbleichte, wie sie vielleicht noch nie in ihrem Leben erbleicht war. Der papierne Hampelmann, an dem sie gerade arbeitete, würde unfehlbar einen Schnitt ins Bein bekommen haben, wenn nicht Celien eine ganz besondere Sorgfalt für Alles, was sie unter Händen hatte, eigen gewesen wäre. Sie legte den Hampelmann sofort bei Seite und saß eine Weile unbeweglich da. Als sie wieder zu sprechen anfing, geschah es mit einer von Tränen erstickten Stimme.
»O Dora, ich hoffe, Du wirst glücklich werden.«
Alle übrigen Gefühle wurden bei ihr in diesem Augenblick durch schwesterliche Zärtlichkeit zurückgedrängt und ihre Besorgnisse waren nur von ihrer Liebe zu Dorotheen eingegeben.
Diese war noch gekränkt und aufgeregt.
»Die Sache ist also schon ganz abgemacht?« fragte Celia in einem ängstlich leisen Tone. »Und Onkel weiß es?«
»Ich habe Herrn Casaubon's Antrag angenommen. Onkel brachte mir den Brief, welcher den Antrag enthielt, wußte aber schon vorher von der Sache.«
»Ich bitte Dich um Verzeihung, Dora, wenn ich Dich durch irgend eine Bemerkung verletzt habe,« sagte Celia, leise schluchzend.
Was in ihr vorging, war ihr selbst ganz neu. Es war ihr, als handele es sich um ein Leichenbegängnis, bei welchem Casaubon als Geistlicher fungiere, so daß es unschicklich sein würde, Bemerkungen über ihn zu machen.
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