Als sie aus dem Wagen stieg, waren ihre Wangen bleich und ihre Augenlider gerötet. Sie war ein Bild des Kummers, und ihr Onkel, der ihr in der Vorhalle entgegen kam, würde durch ihr Aussehen beunruhigt worden sein, wenn nicht die neben ihr stehende Celia so frisch und munter ausgesehen hätte, daß er sofort schloss, Dorotheen's Tränen müßten ihren Grund in ihrer religiösen Exzentrizität haben. Er war während ihrer Abwesenheit von einer Reise nach dem Hauptort der Grafschaft, wohin er wegen Beratung einer Petition um die Begnadigung eines Verbrechers berufen worden war, zurückgekehrt.
»Nun, liebe Kinder,« sagte er freundlich, als sie auf ihn zukamen, um ihn zu umarmen, »ich hoffe, es ist nichts Unangenehmes in meiner Abwesenheit vorgefallen.«
»Nein, Onkel, wir sind nach Freshitt gewesen, um uns die Arbeiterwohnungen anzusehen. Wir dachten, Du würdest schon zum zweiten Frühstück zurückkehren.«
»Ich habe meinen Weg über Lowick genommen, um dort zu frühstücken, – ihr wußtet nicht, daß ich über Lowick kommen würde. Und ich habe ein paar Flugschriften für Dich mitgebracht, Dorothea – in der Bibliothek weißt Du; sie liegen auf dem Tische in der Bibliothek.«
Es schien, als ob ein elektrischer Strom Dorothea durchführe und sie aus einem Zustand der Verzweiflung zu hoffnungsvoller Erwartung emporschnelle. Es waren Flugschriften über die Kirche in der Zeit ihrer Entstehung. Aller Verdruss, den sie über Celia, Tantripp und Sir James empfunden hatte, war vergessen, und sie ging ohne Weiteres in die Bibliothek. Celia ging hinauf. Herr Brooke wurde noch durch eine Botschaft zurückgehalten; als er aber wieder in die Bibliothek trat, fand er Dorothea dort sitzend und schon in die Lektüre einer der Broschüren vertieft, welche mit einigen Randbemerkungen von Herrn Casaubon's Hand versehen war und deren Inhalt sie so begierig in sich aufnahm, wie sie den Duft eines frischen Blumenstraußes nach einem ermüdenden Gange an einem heißen Sommertage eingesogen haben würde.
Sie fühlte sich weit emporgehoben über Tipton und Freshitt und über ihre betrübende Geneigtheit, auf ihrem Wege nach dem neuen Jerusalem falsche Bahnen zu wandeln.
Herr Brooke setzte sich in seinen Lehnstuhl, streckte seine Beine nach dem Holzfeuer hin aus, das in eine wunderliche Masse glühender Würfel zusammengesunken war, rieb sich sanft die Hände und betrachtete Dorothea mit sehr freundlichen Blicken, aber mit einer indifferenten müßigen Miene, als ob er nichts besonderes zu sagen habe. Dorothea legte ihre Broschüre bei Seite, sobald sie die Gegenwart ihres Onkels gewahr wurde, und stand auf, wie um fort zu gehen. Zu anderen Zeiten würde sie sich für die Mission ihres Onkels und für die Begnadigung eines Verbrechers interessiert haben, aber ihre eben erlebte Aufregung hatte sie jedem Gedanken an die Gegenwart entrückt.
»Ich bin über Lowick zurückgekommen, weißt Du,« sagte Herr Brooke, nicht wie um Dorothea zurückzuhalten, sondern allem Anscheine nach nur seiner Gewohnheit gemäß, das, was er schon einmal gesagt hatte, zu wiederholen. Dieses Fundamentalprinzip menschlicher Redeweise trat bei Herrn Brooke in besonders auffallender Weise hervor. »Ich habe dort gefrühstückt und habe Casaubon's Bibliothek und was dazu gehört gesehen. Die Luft ist scharf, wenn man fährt. Willst Du Dich nicht setzen, liebes Kind, Du siehst aus, als ob Dich friere.«
Dorothea fühlte sich ganz geneigt, dieser Aufforderung zu entsprechen. Bisweilen hatte die nachlässig bequeme Art ihres Onkels, über Dinge zu reden, wenn sie sie nicht grade ungeduldig machte, etwas beschwichtigendes für sie. Sie legte ihren Hut und ihren Mantel ab, setzte sich ihrem Onkel gegenüber und hielt die Hände erhoben, um sich gegen die Glut des Feuers, die sie übrigens angenehm empfand, zu schützen. Diese Hände waren weder dünn noch klein, sondern von einer Gestalt, die man bedeutend und echt weiblich nennen kann.
Jetzt fiel ihr wieder der verurteilte Verbrecher ein.
»Was bringst Du für Nachrichten über den Lämmerdieb, Onkel?«
»Wie, über den armen Bunch? nun es scheinst, wir werden ihn nicht losbekommen, er wird gehängt werden.«
Dorotheen's Augenbrauen zogen sich in einer Weise zusammen, welche Missbilligung und Mitleid zugleich ausdrückte.
»Gehängt, weißt Du,« wiederholte Herr Brooke mit einem ruhigen Kopfnicken. »Der arme Romilly! Der würde uns geholfen haben. Ich habe Romilly gekannt. Casaubon hat Romilly nicht gekannt. Er ist ein wenig in Büchern vergraben, weißt Du, ich meine Casaubon.«
»Wenn ein Mann mit großen Studien beschäftigt ist und ein großes Werk schreibt, muß er natürlich darauf verzichten, viel von der Welt zu sehen. Wo soll er die Zeit hernehmen, in die Welt zu gehen und Bekanntschaften zu machen?«
»Das ist wahr. Aber ein Mann wird einseitig, weißt Du. Ich bin auch immer ein Junggeselle gewesen, aber ich bin so angelegt, daß ich nie einseitig geworden bin; es war immer meine Art, überall hinzugehen und Alles in mich aufzunehmen. Das hat mich davor geschützt, einseitig zu werden, aber ich kann sehen, daß Casaubon es wird, weißt Du. Er bedarf des Gefährten, weißt Du.«
»Es würde für Jeden eine große Ehre sein, sein Gefährte zu werden,« bemerkte Dorothea emphatisch.
»Du hast ihn gern, wie?« fragte Herr Brooke, ohne eine Spur von Überraschung oder einer anderen Gemütsbewegung zu verraten. »Nun, ich kenne Casaubon jetzt schon zehn Jahre, seit er nach Lowick gekommen ist. Aber ich habe nie etwas aus ihm herausbekommen können, irgend eine Idee, weißt Du. Indessen ist er doch ein ausgezeichneter Mann und kann noch einmal Bischof werden oder so etwas, weißt Du, wenn Peel am Ruder bleibt. Und er hat eine sehr hohe Meinung von Dir, liebes Kind.«
Dorothea vermochte nicht zu reden.
»In der Tat hat er eine sehr hohe Meinung von Dir, und er spricht ungewöhnlich gut, – das tut er, Casaubon. Er hat sich an mich gewandt, weil Du noch nicht volljährig bist. Kurz ich habe ihm versprochen, mit Dir zu reden, wiewohl ich ihm nicht viel Hoffnung. machen zu dürfen glaubte. Ich hielt mich für verpflichtet, ihm das zu sagen. Ich sagte ihm: ›Meine Nichte ist sehr jung‹, und so dergleichen; aber ich hielt es nicht für notwendig, auf Alles einzugehen. Indessen hat er mich um Erlaubnis gebeten, Dir einen Heiratsantrag machen zu dürfen, einen Heiratsantrag, weißt Du,« bemerkte Herr Brooke mit seinem erläuternden Kopfnicken. »Ich habe es für richtig gehalten, Dir das mitzuteilen, liebes Kind.«
Niemand hätte in der Art und Weise, wie Herr Brooke sprach, eine Spur von Präokkupation entdecken können, und doch wünschte er wirklich etwas über die Stimmung seiner Nichte zu erfahren, um ihr, wenn sie seines Rates bedürfen sollte, denselben zeitig erteilen zu können. Seine Gefühle in dieser Angelegenheit, soweit er in seinem von amtlichen Sorgen erfüllten Herzen überall dafür Raum hatte, waren durchaus freundlich.
Da Dorothea nicht sogleich antwortete, wiederholte er: »ich habe es für richtig gehalten, Dir das mitzuteilen, liebes Kind.«
»Ich danke Dir, lieber Onkel,« sagte Dorothea jetzt in einem klaren festen Tone. »Ich bin Herrn Casaubon sehr dankbar; wenn er mir einen Antrag macht, so werde ich ihn annehmen. Ich bewundere und ehre ihn mehr als irgend einen anderen Mann, den ich kenne.«
Herr Brooke hielt einen Augenblick inne und sagte dann in einem zaudernden leisen Tone: »Ah! – Schön! – Es ist in mancher Beziehung eine gute Partie. Aber Chettam ist auch eine gute Partie, und unsere Güter stoßen an einander. Ich werde mich niemals Deinen Wünschen widersetzen, liebes Kind. Beim Heiraten und dergleichen soll man den Menschen, bis zu einem gewissen Punkte, weißt Du, ihren freien Willen lassen. Das habe ich immer gesagt, bis zu einem gewissen Punkte. Ich wünsche, daß Du Dich gut verheiratest, und ich habe gute Gründe, zu glauben, daß Chettam Dich heiraten möchte. Ich erwähne das nur, weißt Du.«
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