Ein Hauptgebot besteht auch darin, dass der Schüler unbedingt, vorläufig ohne jede Ausnahme, nachts um 12 Uhr schlafen muss . Er gehe bald nach 10 Uhr
zu Bette. Von dieser Regel darf nur in einem höheren Entwicklungsstadium und nur unter ganz besonderen Umständen abgewichen werden. Für solche Fälle werden in einer der folgenden Stufen spezielle Vorschriften gegeben.
Ferner ist zu bemerken, dass sich der Schüler speziell abends der größtmöglichsten Ruhe zu befleißigen hat; besonders vor dem Einschlafen darf er sich weder Erregungen noch irgendwelchen Leidenschaften hingeben — die Abendstunden gehören seiner Entwicklung und die Zeit vor dem Einschlafen muss mit festgesetzten Übungen ausgefüllt werden.
Die für eine bestimmte Zeit, also speziell für den Morgen oder den Abend, vorgeschriebenen Übungen müssen pünktlich eingehalten werden. Alle anderen Übungen kann der Schüler zu jeder Tageszeit vornehmen. Nach dem Essen darf nicht geübt werden.
Diese erste Stufe will den Schüler nicht mit Übungen überbürden. Ihr Zweck besteht darin, die erforderliche Grundlage der Entwicklung zu legen.
Dahin gehört auch das Voll- und Tiefatmen . Dieser wichtigste Lebensprozess wird von den Menschen viel zu wenig beachtet. Wir wissen kaum, dass wir atmen, so nebensächlich ist uns dieser Vorgang. Wir sollen aber lernen bewusst zu atmen, tief und regelmäßig, und zwar von oben nach unten zu atmen. Bei unserer verkehrten Atmungsweise kommen die Lungenspitzen meist zu kurz. Die Einatmung und Ausatmung geschieht bei geschlossenem Munde durch die Nase. Bei warmer Jahreszeit macht man die folgende Übung im Freien oder aber bei weit geöffnetem Fenster. Bei der kalten Jahreszeit übt man in einem vorher gut gelüfteten und erwärmten Zimmer, in welchem nur die Oberfenster geöffnet werden, so dass die einströmende Luft nicht unmittelbar die Lungen trifft. Die nachstehende Übung muss täglich morgens und abends vorgenommen werden.
Der Schüler steht beim Fenster, hält die beiden Arme waagrecht ausgestreckt, führt dann die Arme im Bogen nach rückwärts und schließt die Hände hinter dem Kopfe, um dann die Brust herauszudrücken und den Kopf ein wenig zurück zu neigen. Nun atmet er in dieser Stellung mit geschlossenem Mund durch die Nase in einem anfänglich 5 Sekunden dauernden Zug die Luft tief ein, drückt sie jetzt in den Körper so weit als möglich hinunter, hält sie 5 Sekunden unten und atmet sie durch die Nase derart aus, dass diese Ausatmung ebenfalls 5 Sekunden währt. Die ganze Atemprozedur, die eine viertel Minute in Anspruch genommen hat, wird nun siebenmal wiederholt. Nach einigen Tagen kann man von 5 Sekunden auf 7, dann auf 10 und schließlich auf 15 Sekunden steigen.
Das Auge des Menschen birgt eine große Macht. Aber es muss erst ausgebildet werden. Unser nervöses, zerstreutes Schauen mit seiner Hast und Unruhe zerstört jede energische Strahlung und kann deshalb nicht den großen gewaltigen Eindruck machen, den ein ruhiges geschultes Auge mit dem konzentrierten Blick erzielt. Dieser konzentrierte Blick wird nun durch folgende Übung vorbereitet.
Der Schüler male sich auf ein weißes Papier einen schwarzen Kreis in der Größe eines Fünfmarkstückes. Er befestige nun dieses Papier in Kopfhöhe an die Wand oder an ein Möbelstück, setze sich dem Papier in einer Entfernung von zwei Metern gegenüber und richte seinen Blick auf den schwarzen Kreis. Es ist nun seine Aufgabe, jedes Blinzeln und Zucken der Augen, jede Bewegung der Muskeln, ja sogar des ganzen Kopfes streng zu vermeiden. Die Augen müssen drei Minuten lang starr und leblos auf den Kreis gerichtet sein — es darf für den Übenden nichts mehr existieren als der Kreis. Auch das Tränen der Augen darf daran nichts ändern. Diese Übung kann zu jeder Zeit gemacht werden, nur soll der Schüler nach derselben ein mit lauem (16-18 °R.) Wasser angefülltes Becken zur Hand haben, in welches man das Gesicht taucht und unter Wasser die Augen zu öffnen und hin und her zu drehen sucht. Dann erhebt man den Kopf wieder, um Atem zu holen, worauf das Augenbad neuerdings vorgenommen wird, und so macht man es siebenmal. — Die obige Augenübung ist sehr wichtig und soll man sich durch das anfängliche Tränen der Augen nicht abschrecken lassen. Das Auge wird im Gegenteil mit der Zeit dadurch gestärkt, wozu übrigens auch das nachfolgende Augenbad hilft! Nach dem Augenbad trockne man die Augen und verbleibe längere Zeit in einem geschlossenen und zugfreien Raum.
Sodann muss sich der Schüler angewöhnen, intensiver zu denken — wir sagen, er muss „p lastisch“ denken lernen. Das ist die Grundlage für die spätere Konzentration der Gedanken.
Der Schüler schreibe sich auf einen Zettel 15-20 Gegenstände auf, welche sich nicht in seiner unmittelbaren Umgebung befinden, d. h. welche er mit seinen Blicken nicht so leicht erreichen kann. Vorerst sollen es Gebrauchsgegenstände sein, wie Schere, Messer, Notizbuch, Uhr, Trinkglas usw.
Der Schüler wählt aus seiner Liste einen Gegenstand, spricht ihn aus und versucht nun vor seinem geistigen Auge das Bild dieses Gegenstandes blitzschnell erscheinen zu lassen. Das leibliche Auge mag vorläufig bei dieser Übung geschlossen bleiben. Die Aufgabe besteht hauptsächlich darin, dass der Gegenstand erstens sofort und zweitens in einer solchen plastischen Deutlichkeit erscheint, dass man ihn förmlich greifen könnte. Das wird natürlich nicht sogleich gelingen, darum muss man den fraglichen Gegenstand so oft vor das geistige Auge rufen, bis das Experiment tadellos gelingt; dann erst kann man zu einem anderen Gegenstand übergehen. Nochmals wird betont, dass man den Gegenstand nicht wirklich vor sich stehen, womöglich überhaupt nicht im selben Zimmer haben darf. Diese Übung soll mindestens eine viertel Stunde währen.
Der Schüler bringe seine Abendstunden vorläufig mit guten Büchern zu, die ihn einweihen können in die Lehren der Neugedanken, ihn veredeln und auf die Wege der Wahrheit führen. Der Verlag ist gerne bereit, ihm solche Bücher namhaft zu machen und zu besorgen. Romane, Zeitungen und ähnliche Lektüre darf abends nicht vorgenommen werden. Knapp vor dem Schlafengehen mache er bei frischer Luft noch einmal die erwähnte Vollatmung, kleide sich dann aus und lege sich zu Bett. Und nun sollen seine Gedanken vor dem Einschlafen ausschließlich nur auf Hohes und Edles gerichtet sein: auf Nächstenliebe, Barmherzigkeit und alle sonstigen Tugenden; man gehe rasch im Geiste den ganzen Tag durch und kontrolliere bei jeder Handlung, ob dieselbe ethisch einwandfrei war oder nicht. Man wird da ein großes Sündenregister bekommen, in welchem der Egoismus eine große Rolle spielt. Ganz unangebracht ist aber jetzt jede Reue. Mit scharfer Willenskraft gelobe man sich, morgen anders zu handeln; das hilft mehr. Dann entwickle man Gedanken der Ruhe und des Friedens, man gelobe sich ernstlich, in Hinkunft unter allen Umständen friedlich zu bleiben und sein seelisches Gleichgewicht nicht mehr zu verlieren. Diese Gedanken müssen die absolut letzten sein; während dieser Gedanken suche man einzuschlafen. — Wenn der Schüler das alles genau so befolgt, wird er mit einem Glücksgefühl erwachen, wie er es lange nicht mehr empfunden hat. Diese Übung ist jeden Abend zu machen.
Des Morgens, nach der Atemübung — der Schüler ist natürlich schon angekleidet — mache er noch folgende Übung. Er stelle sich zum geöffneten Fenster (nur die Oberflügel geöffnet) in strammer Haltung, alle Muskel angezogen. Dann erhebe er die Arme und strecke sie waagrecht nach links und rechts aus, spanne alle Muskeln an, atme tief durch die Nase und gehe in dieser strammen Haltung mit erhobenem Haupte und herausgedrückter Brust sieben- bis achtmal durchs Zimmer, dabei sage er sich mit großer Willenskraft und innerster Überzeugung:
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