Er hatte noch keine fünfzehn Minuten über seine Situation nachgedacht, als das Handy klingelte. Das Display zeigte ihm, dass es Ben war, der ihn anrief.
Wollte er noch weitere Informationen? Hatte er ihm vielleicht nicht alles gesagt, was er für seine Recherche brauchte? Oder war er gar auf ein System gestoßen, an dem selbst er scheiterte? Eduard begann schon fieberhaft zu überlegen, was er dann machen sollte, als er das Gespräch annahm.
»Ja, Ben, was gibt’s?«
»Ahlsbeek. Liam Ahlsbeek.«
»Bitte?«
»Du wolltest doch den Namen deines Spenders, Alter. Er hieß Liam Ahlsbeek, war genauso alt wie du und nun rate mal, wo er gelebt hat. Hast du eine Ahnung?«
Selbstverständlich hatte Eduard keine, was er auch recht ungeduldig zum Ausdruck brachte. Dadurch ließ sich Ben allerdings kaum aus der Fassung bringen.
»Halt dich fest, Alter, der hat in Hamburg gewohnt, also quasi um die Ecke von mir. Kannst du dir das vorstellen? Das ist doch mal ein Zufall, oder?«
»Woran ist er gestorben?«
»Hmm, das ist jetzt ein wenig heikel ... also ... genau kann ich es dir noch nicht sagen, da müsste ich mich erst in die Datenbank der Hamburger Polizei reinhacken, und ...«
»Lass das ja sein«, unterbrach Eduard ihn eilig. »Mach keine Dummheiten. Fürs Erste sind das schon ausreichend viele Informationen. Was steht denn bei EUROTRANSPLANT, woran er gestorben ist?«
»Suizid ... also Selbstmord!«
Er hätte Eduard nicht erklären müssen, was Suizid bedeutete, aber der begann sich gerade zu fragen, was die Selbsttötung im Zusammenhang mit dem riesigen Zufall der passenden Spende für ihn zu bedeuten hatte.
»Was kannst du mir noch über meinen Spender sagen?«
»Gedulde dich zehn Minuten und du bekommst ein ausführliches Dossier über den Knaben. Das reicht doch sicherlich, oder?«
Nun saß er in diesem seltsamen, mit den unterschiedlichsten Möbelstücken vollgepackten Zimmer in der Villa der Familie Ahlsbeek und wartete auf die erste Begegnung mit den Mitgliedern dieser geheimnisvollen Sippe. Seit seiner Operation waren zwölf Wochen vergangen und er hätte lieber früher als erst jetzt diese Begegnung gesucht, aber die Einstellung auf die erforderlichen Medikamente, die notwendige Physiotherapie und die Ernährungsumstellung hatten ihn länger in Anspruch genommen, als er sich vorgestellt hatte. Andererseits hatten ihm Ärzte und Therapeuten eine erstaunlich schnelle Genesung betätigt und er konnte froh sein, dass nicht noch weitere zehn bis zwölf Wochen hatten vergehen müssen.
Das Dossier, das Ben ihm tatsächlich zehn Minuten später zugesandt hatte, war schmaler gewesen als erhofft. Die Familie Ahlsbeek war eine alteingesessene und stinkreiche Reederei-Dynastie, die großen Wert auf möglichst geringe Medienpräsenz legte. So waren auch fast keine Bilder der Familie in den Netzen vorhanden, außer wirklich sehr alten Familienfotografien. Die Familie musste ein Vermögen dafür hinlegen, dass fachkundige IT-Experten alle Fotos und unerwünschte Berichte aus dem Internet entfernten. Sowohl durch Bens Dossier als auch durch seine eigenen Recherchen hatte er zumindest die Grundzüge der Familiengeschichte und -hierarchie herausgefunden.
Auf dem Papier stand der inzwischen 81-jährige Lars Ahlsbeek der Familie vor. Er war in zweiter Ehe verheiratet mit einer Deidre Ahlsbeek, geb. Ryder, über die Eduard im Internet rein gar nichts hatte finden können. Sie war 30 Jahre jünger als ihr Mann und hatte ihm zwei Kinder geschenkt, Liam Ahlsbeek und seine jüngere Schwester Gwendolyn Ahlsbeek, 27 Jahre alt. Lars Ahlsbeeks erste Frau war ein Jahr nach der Geburt der Tochter Britta gestorben. Diese Tochter war 50 Jahre alt, mit einem gewissen Knut Weimar verheiratet und die beiden leiteten in Vertretung des Vaters die Reederei.
Sehr viel mehr war nicht herauszufinden gewesen, aber die Informationen hatten zumindest dafür gereicht, die Familie zu kontaktieren und einen Termin zu verabreden. Dabei hatte Eduard sich bislang darauf beschränkt, als Grund für den Termin anzugeben, er hätte Informationen über den verstorbenen Sohn Liam ... mehr nicht.
Den Umstand, dass er der Empfänger des Herzens war, wollte er diesen Leuten lieber persönlich, von Angesicht zu Angesicht mitteilen.
Gerade als er sich aus der Wasserflasche nachschenkte, öffnete sich eine zweiflügelige Tür und das Erste, was er sah, war der hereinrollende Rollstuhl mit einem darin sitzenden, sehr alten Mann. Ihm fielen zuerst die im Schoß gefalteten Hände auf und erst danach sah er die attraktive Frau mittleren Alters, die den Rollstuhl schob. Sie war klein und zierlich, hatte lange schwarze Haare, und eine nicht erkennbare Augenfarbe, da sie eine stark getönte Brille trug. Bei ihr musste es sich um Deidre, Lars Ahlsbeeks zweite Frau handeln, die Mutter seines Herzspenders. Bei ihrem Anblick wurde ihm flau im Magen, wenn er sich vorstellte, ihr gleich sagen zu müssen, dass er das Herz ihres toten Sohns in sich trug. Eduard schluckte schwer, während sich alles in ihm verkrampfte.
In diesem Moment trat hinter ihr eine junge Frau aus dem Schatten ... und ihm stockte der Atem. Sie war fast einen ganzen Kopf größer als die vor ihr gehende Frau und sie war ohne Zweifel deren Tochter, die jüngere Schwester von Liam Ahlsbeek. Für einen Moment blitzte der Gedanke durch Eduards Hirn, was die Drei wohl dachten, wenn ihnen sein fassungsloses Kopfschütteln aufgefallen war. Erst mit einiger Verzögerung gelang es ihm, seinen offenstehenden Mund zu schließen.
Gwendolyn Ahlsbeek war mit ihren 27 Jahren die mit Abstand schönste Frau, die er in seinem ganzen bisherigen Leben gesehen hatte. Gleichgültig ob in der Realität, in Filmen, im Fernsehen oder auf Bildern. Seltsamerweise konnte er es nicht an einem oder mehreren bestimmten Merkmalen festmachen. Sie hatte die schwarzen Haare ihrer Mutter, herrlich glänzendes, fast blauschwarzes Haar, das glatt und voll über ihre Schultern fiel. Bereits aus einer Entfernung von fast vier Metern erkannte er ihre grünen Augen. Noch nie hatte er solche leuchtenden grünen Augen gesehen. Ihre perfekte Figur mit schlanker Taille und optimalen Proportionen zwischen Brüsten und Hüften hätte jedem Topmodel gut zu Gesicht gestanden. Ihre Beine hätte er, selbst wenn sie für ihn sichtbar gewesen wären, unter keinen Umständen begutachten können, so fasziniert war er von diesem Gesicht. Die dunkelrot geschminkten Lippen standen in einem ultrastarken Kontrast zu der hellen, fast bleichen Haut. Abgesehen von dem starken Ausdruck der großen, grünen Augen, war in ihnen eine Traurigkeit, wie Eduard sie selten gesehen hatte, nicht einmal bei Trauergästen an einem Grab von geliebten Verwandten.
»Was ist es, das Sie uns über unsern Sohn zu erzählen haben? Los, reden Sie!«
Der Alte hielt sich wirklich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf, das musste man sagen. Aber seine rüde Ansage brachte Eduard zumindest auf den Erdboden zurück und lenkte ihn von dieser Frau ab. Nun erst betrachtete er den alten Mann genauer und seine etwas schleppende Sprechweise gab ihm den Hinweis, wohin er sehen musste, um zu erkennen, was ihm bisher entgangen war. Es war erstaunlich, wie geschickt der Greis die Folgen des Schlaganfalles verbarg, der ihn vermutlich erst in den Rollstuhl gebracht hatte. Die linke Hand lag über der rechten, und er hielt den Kopf so, dass der etwas hängende rechte Mundwinkel nur bei genauerem Hinsehen auffiel ... oder wenn man wusste, auf was man zu achten hatte. Er trug einen altmodischen Pullunder mit maritimen Mustern über einem marineblauen Hemd. Die weiße Hose hatte makellose Bügelfalten und seine Füße steckten in hochwertigen Pantoffeln. Sie waren auf den Fußrasten des Rollstuhls abgestellt und außer seinem Mund hatte sich während seiner kurzen Ansprache kein einziger Teil seines Körpers bewegt. Den Oberkörper hielt er stocksteif und aufrecht und seine ganze Haltung verströmte den Eindruck von ... Eduard fiel kein anderer Begriff ein ... Macht und Autorität.
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