Diesmal handelte es sich um eine jüngere Version der Schwester vom Vortag, an deren Namen er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte. Die recht unattraktive junge Dame hieß laut Namensschild Ming-Tra, war offensichtlich asiatischer Herkunft, sprach aber ein sehr gutes Deutsch.
»Schwester Ming-Tra, darf ich Sie etwas fragen?«
»Aber natürlich. Was möchten Sie wissen?«
»Wie lange muss man durchschnittlich warten, bis man ein Spenderorgan bekommt?«
»Das ist ganz unterschiedlich, aber so im Schnitt ...«, sie nahm sein Krankenblatt aus der Halterung am Fußende des Bettes und warf einen Blick darauf, »... oh ... äh ... also so genau kann ich Ihnen das doch nicht beantworten. Warten Sie lieber, bis der Doktor um 10:00 Uhr zur Visite kommt, und fragen Sie ihn am besten dann direkt.«
Sie hatte es plötzlich sehr eilig, sein Zimmer zu verlassen, was er als schlechtes Zeichen wertete.
Es fiel ihm erwartungsgemäß schwer, die Wartezeit bis zur Visite durchzustehen, aber schließlich war der Zeitpunkt gekommen und der Oberarzt betrat erneut das Krankenzimmer mit seiner gesamten Mannschaft im Gefolge.
»Auf ein Wort, Herr Doktor. Sie sind mir noch eine wichtige Auskunft schuldig.« Er wollte ihm bewusst keine Zeit lassen, ihn mit dem üblichen »na, wie geht’s uns denn heute?« Geschwätz von der drängendsten Frage abzulenken, die ihm auf der Seele brannte. Der Arzt sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an.
»Wie lange ist im Durchschnitt die Wartezeit auf ein passendes Spenderherz?«
Sein Blick und die zusammengepressten Lippen sprachen Bände, aber der Arzt rang sich schließlich durch und gab ihm Antwort.
»Im Durchschnitt etwa sechs bis zwölf Monate, das kommt darauf an.«
Gar keine schlechte Chance, bei einer prognostizierten Restlebensdauer von sechs bis neun Monaten. Erst nach einigen Sekunden drang die gesamte Antwort weit genug in sein benebeltes Gehirn ein, um alle Implikationen verstehen zu können.
»Auf was kommt es an? Bitte werden sie ein wenig spezifischer.«
Eduard hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Der Doktor bekam wieder diesen unsteten Blick und hätte sich am liebsten um die Antwort gedrückt.
»Äh ... nun ja ... vor allem auf die Kompatibilität, die zum Beispiel sehr stark von der Blutgruppe abhängig ist.«
»Welche Blutgruppe habe ich?«
Für solche Themen hatte er sich als relativ junger Mensch bisher noch nicht wirklich interessiert und es hatte bis zu diesem Tag niemals die Notwendigkeit bestanden, seine eigene Blutgruppe zu kennen. Eduard fiel auf, dass auch die Begleiter des Oberarztes alle in irgendwelche Richtungen blickten, nur nicht in seine.
»AB positiv«, presste der Weißkittel schließlich zwischen zusammengepressten Kiefern durch.
Als würde ihm diese medizinische Ausdrucksweise in irgendeiner Form weiterhelfen.
»Und was bedeutet das genau?«
»Die ist leider ziemlich selten.«
»Wie selten?« Er hatte es langsam leid, dem Mediziner alle Würmer aus der Nase ziehen zu müssen.
»Etwa vier Prozent der deutschen Bevölkerung haben diese Konstellation.«
Er musste Eduards entsetzten Blick bemerkt haben, als sich dessen Gedanken überschlugen, während er die Prozentzahl in eine Chance umzurechnen versuchte, weshalb er unnötigerweise nachsetzte.
»Aber Sie haben noch Glück im Unglück. Sie hätten auch die allerseltenste Kombination haben können, AB negativ, die haben nur ein Prozent der Bevölkerung.«
Was für eine Erleichterung. So ein Glück. Eduard legte den Kopf ein wenig schief und sah ihn an, wie man einen Komiker betrachten würde, der einen Witz gemacht hatte, über den beim besten Willen niemand lachen konnte. »Sie würden vermutlich einem zum Tode durch den elektrischen Stuhl Verurteilten noch einen Vortrag über den Segen der Elektrizität halten, was? Sagen Sie mir, wie bei den Patienten mit dieser Blutgruppe die durchschnittliche Wartezeit ist, oder muss ich den Klinikleiter anrufen?«
»24 bis 36 Monate«, kam es sehr leise und gepresst aus seinem Mund.
Das war nun endgültig sein Todesurteil, daran hatte er nicht den geringsten Zweifel.
Überraschenderweise blieb ihm kaum Zeit, mit seinem schlimmen Schicksal zu hadern, denn es überforderte ihn schon, seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Wie geht man mit seiner Habe um, wenn man niemanden hat, dem man sie vererben kann? Was sollte eine soziale Einrichtung mit seinem Laptop, seinem Computer, seiner Stereoanlage oder der Sammlung von Science-Fiction-Heften anfangen? Möbel und Kleidung war sicherlich unter die Leute zu bringen, aber seine persönlichen Sachen? Seine Reiseandenken, die Fotos von Urlaubsorten, die Ordner mit seinen Artikeln und den Recherchen. Würde sein ganzes bisheriges Leben zuerst in einem Müllcontainer und schließlich auf einer riesigen Müllkippe landen?
Erstmals wurde ihm bewusst, wie alleine auf der Welt er tatsächlich war. Seine Eltern waren gestorben, als er erst siebzehn war. Er hatte keine Geschwister und seine Eltern hatten ebenfalls keine Geschwister gehabt, weshalb ihm auch Onkel, Tanten, Cousins oder Cousinen fehlten. Was blieb da noch? Arbeitskollegen und Kumpel vielleicht. Da er zeit seines Lebens immer ein Einzelgänger gewesen war, als freier Journalist nicht in einer Redaktion gearbeitet und den Kontakt zu seinen Studienkollegen nie gepflegt hatte, fehlten ihm nun jegliche sozialen Kontakte, wie ein normaler Mensch sie zu Dutzenden hatte. Diese Erkenntnis brachte ihn fast mehr zur Verzweiflung als der Umstand, dass sein Leben in einigen Monaten enden sollte.
Seit der niederschmetternden Diagnose waren gerade einmal drei Wochen vergangen und er befand sich gerade in einer Phase tiefster Depression, als ihn ein Anruf erreichte, der ihn sofort in das Münchner Transplantationszentrum berief.
»Umgehend und ohne jede Verzögerung«, war der genaue Wortlaut gewesen, was in ihm die Hoffnung weckte, dass der Grund keine neuerliche Untersuchung war, sondern vielleicht tatsächlich ein neues, für ihn gefundenes Herz sein könnte.
Nur sieben Stunden später schlug ein neues Herz in seiner Brust. Es als neu zu bezeichnen, entsprach zwar nicht ganz den Tatsachen, aber er betrachtete es als für sich neu , auch wenn das Herz an sich schon gebraucht war.
Ein gebrauchtes Herz ... alleine der Begriff warf ihn aus der Bahn und schürte jede Menge ungewollter Fragen. Wie gebraucht war es? Wer war der Spender? Was hatte ihm passieren müssen, damit er davon profitieren konnte?
An dieser Stelle seiner Überlegungen musste er sich beschämt eingestehen, dass er nicht nur selbst kein Organspender gewesen war, sondern sich im Vorfeld der Operation noch nicht einmal Gedanken über einen möglichen Spender gemacht hatte. Zu sehr war er von der Überzeugung beeinflusst gewesen, dass er eh sterben würde, bevor der unwahrscheinliche Fall eintreten könnte, dass ein passendes Organ für ihn verfügbar wäre.
Die ersten drei Tage nach der OP dämmerte er in der Intensivstation vor sich hin und im Nachhinein konnte er nicht mehr alle Gedanken rekapitulieren, die ihm in dieser Zeit durch den Kopf gegangen waren. Als er am fünften Tag wieder aufstehen konnte und erste Übungen machen musste, arbeitete sein Gehirn allerdings auf Hochtouren. All die Gedanken zur Herkunft des Spenderorgans nahmen immer mehr Gestalt an und er musste sich einfach Gewissheit verschaffen.
Also löcherte er unmittelbar, nachdem er dazu in der Lage war, den Professor, der ihn operiert hatte, mit genau diesen Fragen.
»Herr Professor, wer war der Spender meines neuen Herzens?«, hatte er blauäugig gefragt, ohne sich im Vorfeld über die Rechtslage zu informieren.
»Bedaure, Herr von Gehlen, das dürfen wir Ihnen nicht mitteilen. Das Transplantationsgesetz sieht vor, dass eine Organspende für beide Seiten anonym ist.«
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