Er sah keinen Film seines bisherigen Lebens, ihm gingen keine Gedanken des Bedauerns oder die Frage nach dem Grund oder gar, warum es ausgerechnet ihn traf, durch den Kopf. Stattdessen wurde es einfach dunkel ... und er war tot.
Wenn man tot ist, hört man nichts mehr. Er konnte auch nicht von oben auf seinen Körper herabsehen und etwa beobachten, wer und wie man sich um seinen toten Körper kümmerte. Was er sah, war das kalte Krankenhauslicht, als er langsam erwachte. Er konnte nicht mehr sagen, wann genau er die Schwelle von der Bewusstlosigkeit ins Wachbewusstsein überschritten hatte, als ihm klar wurde, dass er lebte ... irgendwie. Sein gesamter Körper schmerzte und er konnte sich kaum bewegen. Sein Singledasein hatte den entscheidenden Nachteil, dass bei seinem Aufwachen niemand an seinem Bett saß, seine Hand hielt und ihn freudig begrüßte, mit Aussagen wie: »Oh, wie schön, dass du wieder da bist. Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Jetzt wird alles gut. Du wirst wieder gesund.«
Seine Eltern waren sehr früh gestorben und er hatte keine Geschwister. Also saß niemand an dem Krankenbett und erzählte ihm irgendwelchen Unsinn, der ihn aufheitern, ihn motivieren sollte. Um ihn herum standen Unmengen elektronischer Geräte, deren Bedeutung er nur zum Teil verstand. Ihm war aus zahlreichen TV-Krankenhausserien selbstverständlich bekannt, dass die grüne Zackenlinie und das rhythmische Piepsen seinen Herzschlag darstellten. Von den Werten, die daneben zu lesen waren, hatte er noch in Erinnerung, dass es sich um Sauerstoffsättigung und Blutdruck handeln musste. Was die Werte allerdings genau aussagten, wusste er beim besten Willen nicht mehr zu sagen.
Bei dem Versuch, nach einer Schwester oder einem Pfleger zu rufen, musste er feststellen, dass seine Kehle zu rau war, um ihr mehr als ein Krächzen zu entlocken. Er musste längere Zeit intubiert gewesen sein. Also tastete er mit der rechten Hand neben seinem Körper über die Matratze des Krankenhausbettes und fand, was er suchte: ein Gerät mit Rufknopf.
Es dauerte nach dem Drücken gefühlte fünf Minuten, bis eine Schwester erschien, aber er hatte ja sowieso gerade nichts anderes zu tun, als herumzuliegen und darauf zu warten, dass ihm jemand erklärte, was eigentlich passiert war.
»Aha, da ist ja jemand wieder unter den Lebenden. Wie schön, dass wir Sie wiederhaben. Wäre doch schade um so einen attraktiven jungen Mann gewesen.«
Die fröhliche Art der etwas molligen Schwester, die gut und gerne seine Mutter hätte sein können, war vermutlich dazu gedacht, ihn aufzuheitern oder seinen Lebenswillen anzustacheln. Ihm hingegen kam es vor, als behandle ihn jemand wie ein Kleinkind. Das war nichts, was ihm gefiel, aber in diesem Moment erschien es ihm nicht ratsam, mit einer solchen Person zu diskutieren. Ganz abgesehen davon wäre er gerade überhaupt kaum in der Lage gewesen, eine längere Diskussion zu führen.
»Wasser ... trinken«, war das Einzige, was er äußern konnte.
»Natürlich! Wie unaufmerksam von mir. Natürlich sind Sie durstig, mein armer Junge.«
Ihre mütterliche Art ging ihm sehr auf die Nerven. Aber was hätte er tun sollen? Was hätte er in dieser Situation tun können ? Also fügte er sich in sein Schicksal und trank aus der Schnabeltasse, die sie ihm zum Mund führte.
»Was ... passiert?«, krächzte er mühsam die minimalistische Frage nach seinem Schicksal heraus. Er hatte zwar einen Verdacht, war sich aber nicht ganz sicher. Er wollte ... er brauchte Bestätigung, Information, was auch immer, warum er hier lag.
Die Schwester, die er inzwischen auf etwa Mitte fünfzig schätzte, schaute ihn auf eine Art und Weise an, die sie vermutlich für verschmitzt hielt.
»Na ja, man kann sagen, Sie sind auferstanden. Das klingt vielleicht ein wenig dramatisch, aber Sie waren tot. Zumindest eine ganze Weile. Was man so hört, war es hart an der Grenze, was den Zeitraum angeht, bis irreparable Hirnschäden entstehen.«
Sie hielt erschrocken inne, als ihr klar zu werden schien, was sie ihm da gerade eröffnet hatte.
»Also ... ich will nichts Falsches sagen ... ich denke nicht, dass Sie ... äh ... Sie fühlen sich doch wohl, oder?«
In einer besseren körperlichen Verfassung hätte er vermutlich gelacht, um ihr dann freundlich die Hand auf den Arm zu legen und zu sagen: »Na, das fällt Ihnen aber reichlich spät ein. Was, wenn ich nun wirklich einen bleibenden Hirnschaden hätte?«
Aufgrund der inzwischen wieder mit normaler Geschwindigkeit ablaufenden Denkprozesse und Überlegungen war er sich allerdings relativ sicher, dass er keinen Hirnschaden erlitten hatte. Er überlegte und passte die folgenden Fragen, so gut es ging, an seine derzeit reduzierte Sprachfähigkeit an.
»Was ... passiert? Wie ... lange?«
Trotz seiner durch Husten unterbrochenen Fragen schien sie zu verstehen, auf welche Informationen es ihm ankam. Die Erleichterung darüber, dass er offensichtlich nicht hirntot war und sich noch in der Lage sah, halbwegs vernünftige Fragen zu stellen, war ihr anzusehen.
»Sie hatten einen schweren Herzinfarkt beim Joggen. Ihr Herz hat aufgehört zu schlagen. Aber Näheres dazu kann Ihnen nur der Doktor sagen. Das darf ich nicht ... und ich könnte es auch gar nicht«, gab sie nach kurzem Zögern zu.
»Wo ...?«
Seine Frage wurde durch einen erneuten Hustenanfall unterbrochen, aber sie hatte ihn auch so verstanden.
»Sie sind selbstverständlich im Krankenhaus, aber Sie können natürlich nicht wissen, in welchem. Sie befinden sich im Klinikum rechts der Isar und glauben Sie mir«, sie machte eine bedeutungsschwere Pause, »hier sind Sie in den allerbesten Händen.«
Da er keinerlei Grundlage für irgendwelche Zweifel an ihren Worten hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr für den Moment zu glauben.
»So, junger Mann, jetzt ist es aber mal gut. Sie sollten sich zu Anfang auf keinen Fall überanstrengen. Ich stelle Ihnen hier noch eine Tasse mit einem Trank hin, der Ihren malträtierten Hals schnell wieder auf Vordermann bringt.«
Sie zwinkerte ihm zu. »Ich kann mir vorstellen, dass Sie der Typ sind, der dem Doktor Löcher in den Bauch fragen möchte. Da wollen wir doch nicht, dass die Stimme versagt, oder?«
Er nickte mit letzter Kraft und versank kurz darauf in einen erschöpften Schlaf.
Die nächsten zwei Tage verbrachte er in einem Schwebezustand zwischen Wachen und Schlafen. Er zwang sich, so viel wie möglich zu schlafen, denn er konnte sich vorstellen, dass er die Kraft brauchen würde. Langsam stieg allerdings die Ungeduld bezüglich eines klärenden Gesprächs mit dem behandelnden Arzt. Da er keine Angehörigen hatte, die Druck beim Oberarzt oder sogar der Klinikleitung hätten machen können, blieb es an ihm hängen, die Schwestern und Pfleger damit zu nerven, den Arzt endlich sprechen zu wollen. Aber man vertröstete ihn damit, dass er an einem Donnerstag eingeliefert, am späten Freitag erstmals erwacht war und nun halt eben Wochenende sei. Er müsse sich bis Montag gedulden und bis dahin damit beschäftigen, zu genesen. Ha, ha, sehr lustig.
Um zehn Uhr an diesem schicksalshaften Montag, den er sein Leben lang nicht vergessen würde, erschien der Oberarzt mit vollständiger Entourage, Stationsarzt, Assistenzärzte, Schwestern, jeder Menge Kladden und Akten ... und einer Leichenbittermiene, die ihm nichts Gutes verhieß. Schon bei den ersten Sätzen wurde ihm klar, warum der Arzt sich das Wochenende über gedrückt hatte oder vielleicht auch hatte warten wollen, bis er wieder ein wenig bei Kräften war.
»Herr ... von Gehlen«, er sah von seiner Kladde auf und es fiel ihm sichtlich schwer, ihm in die Augen zu sehen, »ich habe keine wirklich guten Nachrichten für Sie, es tut mir sehr leid.«
»Darf ich fragen, was genau die nicht guten Nachrichten sind?« Er hatte keine Lust auf Smalltalk und der Arzt musste es seiner Stimme angehört haben, denn er kam sofort zur Sache.
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