Zehn Minuten später saß Eduard mit Gwendolyn in einer ruhigen Ecke der Bar des Atlantic Kempinski. Es war sein Vorschlag gewesen, denn in seinem Zimmer hatte er sich alleine mit dieser Frau sehr unsicher gefühlt. Es war sonst nicht seine Art, sich von Frauen verunsichern zu lassen, weder von besonders starken, noch von besonders hübschen Frauen. Mit Gwendolyn Ahlsbeek war das etwas anderes. Schon nach wenigen Worten war er sich sicher, dass sie nicht nur die attraktivste Frau war, die er je gesehen hatte, sondern auch eine der intelligentesten, mit der er sich je unterhalten hatte.
Ihre Stimme hatte ihn zusätzlich verunsichert. Sie hatte eine höchst angenehme dunkle Alt-Stimme, die rauchig und ... er musste es sich eingestehen ... in höchstem Maße sexy klang. Er hatte sich gezwungen gesehen, aus der Suite zu flüchten, unter Leuten zu sein, auch wenn sie in der Bar eine ruhige Ecke angesteuert hatten. Es war dennoch Öffentlichkeit, die ihn sicher sein ließ, dass er keinen Blödsinn veranstalten würde.
Sie hatte ihn gebeten, sie Gwen zu nennen, was er natürlich nicht ablehnen konnte. Im Gegenzug hatte er sie gebeten, ihn Eddy zu nennen, was sie mit diesem unglaublichen Lachen quittiert hatte, das so gar nicht lächerlich klang.
»Das ist nicht Ihr Ernst, oder? Eddy? Ich glaube, Eduard sagt mir eher zu. Eddy klingt irgendwie nach einem Kleinkriminellen. Oder hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Sie Ed nenne?«
Es zeugte von seinem desolaten Zustand, dass er diesem Vorschlag ohne zu zögern zustimmte, obwohl er sich bisher immer vehement geweigert hatte, diese Abkürzung seines Namens zu akzeptieren. Als Fan von amerikanischen Comedy-Serien aus den Sechzigern erinnerte ihn dieser Name zu sehr an die von ihm so geliebte Serie »Mister Ed, das sprechende Pferd«.
Aber so, wie er an ihren Lippen hing, hätte sie ihm vermutlich vorschlagen können, ihn »Pony« zu nennen ... und er hätte genauso bedenkenlos zugestimmt.
Nur zu gerne hätte Eduard in dieser Situation etwas Stärkeres als stilles Mineralwasser getrunken, zumal er zusehen musste, wie Gwen sich einen sechzehn Jahre alten irischen Single-Malt-Whisky bestellte und ihn mit Genuss in sehr kleinen Schlucken trank. Er überlegte, wer von ihnen das Gespräch beginnen sollte und mit welchem Thema. Ihm schwirrten so viele Fragen durch den Kopf, andererseits hatte er seine Vermutungen, was die seltsamen Gedanken und Geschmacksveränderung anging ... aber wo anfangen?
Es war Gwen, die die Initiative ergriff und ihren Gedankenaustausch einleitete.
»So ... Sie tragen also das Herz meines großen Bruders in Ihrer Brust. Darf ich fragen, warum Sie uns aufgesucht haben und wie sie uns ausfindig machen konnten?«
Das waren zwar gleich zwei ganz unterschiedliche Fragen, aber er wollte die Sache langsam angehen und nicht sofort alle Karten auf den Tisch legen.
»Ich denke, es ist nachvollziehbar, dass der Empfänger eines Spenderorgans mehr über den Spender erfahren möchte. Der Umstand, dass Ihr Bruder die gleiche sehr seltene Blutgruppe und Gewebemerkmale hatte wie ich und dann auch noch in so unmittelbarer zeitlicher Nähe zu meinem Herzinfarkt verstorben ist, kann einem schon zu denken geben. Meine Aussichten ein Spenderherz zu bekommen, waren so gering, dass ich bereits mit dem Leben abgeschlossen hatte. Um so mehr interessiert mich das Leben, aber auch der Tod Ihres Bruders. Ich bin Ihnen unendlich dankbar, dass Sie überhaupt mit mir sprechen. Ich kann mir vorstellen, dass es sehr belastend für Sie ist.«
Sie blickte ihn lange und schweigend an, bevor sie etwas erwiderte. Kurzzeitig hatten sich Tränen in diesen wunderschönen grünen Augen gebildet, die sie allerdings hastig wegwischte.
»Wo soll ich da anfangen?« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf, wartete aber keine Antwort ab. »Zuallererst mal wundert es mich, dass mein Bruder überhaupt als Spender in Frage kam.« Sie sah Eduard zum wiederholten Male prüfend von oben bis unten an.
»Sie ähneln sich so unsagbar wenig, dass ich das nie für möglich gehalten hätte.«
Bevor er eine entsprechende Frage überhaupt stellen konnte, zog sie ein Smartphone aus ihrer Handtasche, entsperrte den Bildschirm und reichte es ihm.
»Sehen Sie sich die Bilder an, dann wissen Sie, was ich meine.«
Eduard blätterte durch die Bildergalerie, die ausschließlich Fotos von Liam Ahlsbeek enthielt. Bilder aus allen Lebenssituationen: alleine, zusammen mit seiner Schwester, beim Sport, am Schreibtisch, mit der Familie vor einem Weihnachtsbaum, in einer Kneipe mit anderen Leuten seines Alters. Sie zeigten einen jungen Mann, der tatsächlich rein gar nichts mit Eduard gemein hatte. Er war, wenn er seine Größe von den Bildern mit seiner Schwester schätzte, etwa 1,75 groß, sehr muskulös, hatte ein offenes Lachen, konnte aber auch sehr ernst und traurig in die Welt blicken. Der krasseste Unterschied zu Eduard waren seine pechschwarzen Haare, die er glatt und halblang getragen hatte und die gleichen grünen Augen, die seine Schwester und Mutter auszeichneten. Dabei war er wie seine Schwester von einer fast krank wirkenden Blässe.
Nachdenklich gab er Gwen das Smartphone zurück.
»Sie haben Recht, äußerlich hätten wir wirklich kaum unterschiedlicher sein können. Aber was war er für ein Mensch? Was hat er gemocht, was hat er gehasst, und was hat er mit seinem Leben angefangen?«
Gwendolyns Augen begannen sich wieder mit Tränen zu füllen und ihre Oberlippe zitterte merklich.
»Wenn es Ihnen zu viel ist, Gwen, dann lassen Sie uns das Gespräch verschieben. Ich muss das alles nicht unbedingt heute wissen, nachdem ich nun schon zwölf Wochen auf Antworten warte.«
Er legte sachte seine Hand auf ihren Arm und fragte sich, ob er sie in den Arm nehmen sollte. Besser nicht, entschied er sich, sie könnte es missverstehen.
Sie schloss die Augen und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Dann schnaubte sie durch die Nase und schien sich wieder gefasst zu haben.
»Sie sagen es völlig zu Recht, es ist nun zwölf Wochen her und ich muss mich der Realität stellen. Wenn Sie darauf warten wollten, bis es nicht mehr wehtut, wenn ich an Liam denke, von ihm spreche oder sein Foto sehe, dann können Sie vermutlich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten. Wenn ich etwas erreichen will, muss ich auch in der Lage sein, über ihn zu sprechen.«
»Was möchten Sie denn erreichen?«
Sie sah ihn erstaunt an. »Für einen Journalisten haben Sie eine ziemlich langsame Auffassungsgabe, Ed, da hätte ich mehr erwartet. Selbstverständlich will ich den Mord an meinem Bruder aufklären. Ich will wissen, wer das getan hat, und dann ...«
Sie ließ offen, was dann sein würde, aber aus ihrem Blick schloss er, dass sie nicht an eine Übergabe an die Polizei dachte. Allerdings hatte sie seine journalistische Neugier in eine bestimmte Richtung gelenkt, und die unterschied sich nicht wesentlich von dem Wissensdurst eines Kriminalisten.
»Woraus schließen Sie, dass Ihr Bruder ermordet wurde ... und was meint die Polizei dazu?«
»Zum Thema Polizei muss ich mich zurückhalten, sonst sage ich vermutlich etwas, dass gegen mich verwendet werden kann. Ich halte nicht wirklich große Stücke auf unsere verbeamteten Gesetzeshüter.« Ihr Blick verdüsterte sich wieder. »Warum mein Bruder sich nicht selbst getötet hat, kann ich Ihnen sehr deutlich sagen. Erstens hätte Liam das niemals getan, ohne mir und unserer Mutter einen Abschiedsbrief zu hinterlassen, und zweitens hatte er keinen Grund. Er hatte seit einem halben Jahr eine neue Freundin und es lief gut mit ihr. Er hat mir viel von ihr vorgeschwärmt. Außerdem hatte er gerade wieder Frieden mit unserem Vater geschlossen und sogar ein Praktikum in der Firma angefangen. Also hatte er insgesamt genau das Gegenteil eines Grundes für eine Selbsttötung. Das ist absolut abwegig.«
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