Sie hatte sich langsam aber stetig in Rage geredet, zwischendurch immer wieder verächtlich geschnaubt und energisch den Kopf geschüttelt. Wären die Umstände und der Sachverhalt nicht so traurig gewesen, hätte es ihn enorm angeturnt, wie sie sich echauffierte. So aber verstand er ihre Aufregung und hatte eher Mitleid aufgrund ihrer Situation.
»Warum genau bezweifeln Sie die Auffassung der Polizei?«
»Haben Sie mir nicht zugehört?« Sie wurde lauter, als es in der Bar angebracht war und Eduard signalisierte ihr, etwas leiser zu sein. »Egal was die Polizei sagt, aus den genannten Gründen kann es kein Selbstmord gewesen sein. Niemals! Punkt!«
Er war geneigt, ihr zu folgen, aber nicht, weil ihn ihre Argumente absolut überzeugt hätten. Für einen fehlenden Abschiedsbrief konnte es viele Gründe geben, und das angebliche Glück mit der neuen Freundin musste auch nicht die Realität dargestellt haben. Das brachte ihn zu dem, was er nicht wusste, aber gerne wissen wollte. Es war an der Zeit, ihr mehr zu erzählen.
»Sie hatten mich gefragt, wie ich herausgefunden habe, dass Ihr Bruder der Spender des neuen Herzens war. Dazu muss ich Ihnen etwas erzählen.« Er blickte auf seine Uhr und stellte fest, dass es inzwischen 19:00 Uhr war, also noch etwa eine Stunde Zeit blieb, bis Benjamin hier auftauchen würde. Angesichts ihrer Einstellung zur Polizei hatte er keine großen Bedenken, ihr die Wahrheit über Bens Aktivitäten zu berichten, ohne Angst haben zu müssen, dass sie mit diesen Informationen gleich zu den Behörden laufen würde.
Also erzählte er ihr von Ben, von seiner Mitgliedschaft im Chaos Computer Club und seinen Hackeraktivitäten, die er für ihn in Angriff genommen hatte. Ihre Augen wurden immer größer und Eduard hatte Schwierigkeiten, sich auf seine Schilderung zu konzentrieren. Als er ihr schließlich erzählte, dass Ben gegen 20:00 Uhr ins Hotel kommen würde, um ihn zu treffen, war ihre Reaktion eine andere, als er erwartet hatte.
»Wow, da bin ich wirklich gespannt, Ihren Freund kennenzulernen. Er muss wirklich gut sein, wahrscheinlich sogar besser, als Sie es sich vorstellen können. Ihnen fehlt nämlich der Vergleich.« Sie grinste. »Ich weiß, dass mein Vater die für ihn arbeitenden IT-Spezialisten beauftragt hatte, genau das herauszufinden, was ihr Freund Ihnen geliefert hat, ... und die haben Fehlanzeige gemeldet. Angeblich sei die Datenbank von EUROTRANSPLANT so gut geschützt, dass es unmöglich sei, sie zu hacken. Es wird mir eine Freude sein, Ihren Hackerfreund kennenzulernen.«
Sie legte den Kopf kurz überlegend zur Seite, bevor sie weitersprach. »Vielleicht kann er uns ja den Zugang zu den Unterlagen und Erkenntnissen der Polizei verschaffen.«
»Ihnen ist klar, dass das in höchstem Maße illegal wäre, oder?«
»Illegaler, als die Datenbank von EUROTRANSPLANT zu hacken? Machen Sie sich nicht lächerlich. Haben Sie Angst, erwischt zu werden? Wo ist Ihr sportlicher oder wenigstens Ihr journalistischer Ehrgeiz, Ed?«
Sie hatte natürlich Recht und punktgenau seine einzige Schwäche gefunden: Angst bei etwas Illegalem erwischt zu werden. Aber er wollte dieses Thema nicht weiter vertiefen, dafür war noch genug Zeit, wenn Benjamin an dem Gespräch teilnahm. Also wechselte er das Thema.
»Was ist aus der Freundin Ihres Bruders geworden? Was sagt sie zu Ihrer Theorie? Ist sie der gleichen Meinung?«
Gwendolyns Blick verdüsterte sich und eine Zornesfalte bildete sich auf ihrer Stirn.
»Das ist auch ein Grund, warum ich der Polizei weder traue, noch ihr viel zutraue. Thi Bian ist seit dem Tod meines Bruders wie vom Erdboden verschluckt.«
»Wer?«
»Thi Bian, oder genauer gesagt, Pham Thi Bian, die thailändische Freundin meines Bruders. Die Polizei misst dem keine große Bedeutung bei und führt es der Einfachheit halber darauf zurück, dass sie sich illegal in Deutschland aufgehalten haben muss, denn sie können keine Unterlagen bei der Ausländerbehörde über sie finden. Sie gehen einfach davon aus, dass sie nach dem angeblichen Selbstmord abgehauen oder untergetaucht ist.«
Das waren eine Menge neuer Informationen, die zusätzliche Rückschlüsse, aber auch Rechercheansätze boten. Eduard vertagte das weitere Nachdenken darüber auf den Moment, wenn Benjamin sich zu ihnen gesellen würde. Aber ihm geisterte noch etwas anderes in seinen Gedanken herum, das er erst nicht fassen konnte. Gwendolyn hatte etwas gesagt, zu dem er unbedingt hatte nachfragen wollen. Was war das noch gewesen? Er ließ den Verlauf der Unterhaltung noch einmal vor seinem geistigen Auge ablaufen. Natürlich, das war’s!
»Sie hatten vorhin erwähnt, dass ihr Bruder wieder Frieden mit Ihrem Vater geschlossen hat. Also muss es zuvor ein Zerwürfnis gegeben haben. Darf ich fragen, was da los gewesen war?«
»Hören Sie nur auf solche blöden Worthülsen zu benutzen.« Sie schien verärgert zu sein. »Darf ich fragen«, äffte sie ihn nach, »was für ein Blödsinn. Wenn ich nicht rückhaltlos mit Ihnen zusammenarbeite, habe ich wohl kaum eine Chance, den Grund für den Mord an meinem Bruder herauszufinden. Außerdem wäre ich dann nicht hier und unterhielte mich mit Ihnen. Also, Sie dürfen nicht nur fragen, Sie müssen sogar.«
In der folgenden Viertelstunde beschrieb sie ihm in allen Einzelheiten, warum ihr Vater und Liam sich überworfen hatten. Liam war nach ihrer Beschreibung schon immer ein aufrührerischer Freigeist gewesen, der sich vor allem den Familienzwängen widersetzt hatte. Seine Vorlieben waren die Musik und - ich war erneut mehr als erstaunt - sein Studium der Germanistik und des Journalismus gewesen. Als er sich geweigert hatte, als einziger männlicher Erbe in die Firma einzutreten, hatte sein Vater ihn hinausgeworfen und sie hatten zwei Jahre lang kein Wort miteinander geredet. Liam musste ein begnadeter Pianist gewesen sein, und sogar eine Zeitlang mit dem Gedanken gespielt haben, dies zu seinem Beruf zu machen.
Eduard überlegte an dieser Stelle ihrer Schilderung, auf seine seltsamen Geschmacksveränderungen zu sprechen zu kommen, verwarf den Gedanken aber. Schon bei der Erwähnung von Liams asiatischer Freundin waren ihm seine Träume von einer Asiatin in den Sinn gekommen, und er hatte es als zu früh angesehen, Gwendolyn davon zu erzählen.
»Aber er hatte seine Träume von der Journalistenkarriere noch nicht vollständig aufgegeben«, riss ihre rauchige Stimme ihn aus seinen Gedanken. »Erst vier Wochen vor seinem Tod hat er mir davon erzählt, dass er durch Zufall einer wirklich großen Geschichte auf der Spur sei, mit der er sich einen Namen in der Branche machen würde. Er war ziemlich aufgeregt, wollte mir aber nicht mehr erzählen.«
»Vielleicht hat das ja etwas mit seinem Tod zu tun?«, stellte Eduard eine wilde Vermutung auf.
»Also glauben Sie mir jetzt, dass Liam ermordet wurde?«
»Ich glaube vorläufig noch gar nichts, das hat sich in der Vergangenheit als bessere Ausgangsbasis für Nachforschungen gezeigt. Lassen Sie uns warten, bis mein Freund Benjamin zu uns stößt, dann können wir Pläne für die weitere Vorgehensweise machen.«
Nach seinem letzten Statement saßen sie sich für lange drei Minuten schweigend gegenüber. Er nippte an seinem faden Mineralwasser ohne Kohlensäure, während Gwendolyn bereits ihren zweiten Whisky trank.
Gerade als er ein neues Thema zur Sprache bringen wollte, um die quälende Stille zu unterbrechen, sah er Benjamin durch den Eingang der Bar kommen. Ungeachtet der Tatsache, dass sie sich in der Bar eines Nobelhotels trafen, war er, was seinen Kleidungsstil betraf, keine Kompromisse eingegangen. In seinem Biker-Outfit zog er die Blicke der Gäste auf sich und Eduard überlegte einen kurzen Moment, ob er ihn nicht abfangen sollte. Aber Ben hatte ihn bereits gesehen und kam strahlend und winkend auf ihren Tisch zu.
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