Da Gwendolyn mit dem Rücken zum Eingang der Bar saß, bemerkte sie erst an Eduards Blick und als er sich zur Begrüßung erhob, dass sein Freund eingetroffen war. Sie erhob sich ebenfalls und drehte sich zu Benjamin um. Zu Eduards Bedauern konnte er ihr Gesicht nicht sehen, als sie Benjamin erblickte, aber er stellte sich vor, dass sie genauso verblüfft und sprachlos aussah, wie sein Freund.
Ben fand als Erster die Sprache wieder.
»Äh ... komme ich ungelegen? Wollen wir uns später nochmal treffen, Eddy? Ich sehe ja, du hast eine ... nette Begleitung ... äh ... gefunden. Ich störe bestimmt, oder?«
Sein Trugschluss war nicht verwunderlich, da Gwendolyn zwar die blonde Perücke abgezogen und noch auf Eduards Zimmer in ihrer Handtasche verstaut hatte, aber noch immer einen roten Lederminirock und ein Pelzjäckchen trug. Mit ihren hochhackigen Pumps überragte sie Benjamin um mindestens zehn Zentimeter und sie machte keine Anstalten, ihm die Hand zu reichen oder sich vorzustellen.
Eduard seufzte schwer und versuchte, zu retten, was vermutlich nicht mehr zu retten war.
»Darf ich vorstellen, Gwendolyn Ahlsbeek, die Schwester meines Spenders ... Benjamin Swenske, mein treuer Freund und genialer IT-Spezialist.
»Wie? Was? Das ist ...?«, stammelte Benjamin, bis er schließlich seine rechte Hand ausstreckte, nicht ohne sie vorher an seiner speckigen Lederhose abzuwischen. Gwendolyn rettete die Situation, als sie anfing, verhalten zu lachen. Vermutlich wollte sie nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sie alle lenken, denn Eduard konnte sich vorstellen, dass die Besucher der Bar sich inzwischen reichlich Gedanken machten, was der Rocker und die Prostituierte bei dem nett aussehenden Herrn am Tisch suchten.
»Sie hätten mich vorwarnen können«, sagte sie leise zu Eduard, »dass ihr Freund auch in einer Verkleidung kommt.«
Nicht leise genug, denn Benjamins säuerliches Gesicht zeigte überdeutlich, dass er ihre Bemerkung gehört hatte. Noch bevor er einen Kommentar dazu abgeben konnte, griff Eduard ein.
»Setzen wir uns doch, dann erregen wir nicht noch mehr Aufsehen. Was möchtest du trinken, Ben?«
»Ein Bier«, war seine erstaunlich wortkarge Antwort.
Eduard winkte einen Kellner heran, bestellte und gemeinsamen warteten sie schweigend, bis das Bier an ihren Tisch gebracht wurde. Unterdessen warf Benjamin immer wieder verstohlene Blicke zu Gwendolyn, wenn er dachte, sie würde es nicht bemerken. Gwendolyn tat das Gleiche und unter anderen Umständen hätte Eduard das Verhalten der beiden amüsiert. Nachdem Benjamin den ersten Schluck getrunken hatte, hielt er es nicht mehr aus.
»Also Leute, genug geschwiegen. Wer ist so nett und bringt mich auf Stand? Is ja nicht so, als hättet ihr bisher nur Smaltalk miteinander gehabt, oder? Also ... ich weiß nicht, was ihr hattet ... ich meine, worüber ihr geredet habt ... ihr habt doch geredet?«
Gwendolyn und Eduard mussten zeitgleich lachen und Benjamins dummes Gesicht brachte sie nur noch mehr zum Lachen. Nachdem das Opfer ihres Amüsements sie sehr böse angeschaut hatte, hatte Eduard ein Einsehen und vermittelte ihm eine Zusammenfassung der Erkenntnisse, die er von Gwendolyn gewonnen hatte. Bereits nach wenigen Worten hatte er Benjamins volle Aufmerksamkeit und seine Verärgerung war Schnee von gestern. Der ewige Verschwörungstheoretiker war sofort Feuer und Flamme und konnte sich kaum zurückhalten, sofort Theorien aufzustellen oder Vorschläge zu machen. Eduard musste ihn mehrfach mit ausgestreckter Hand ermahnen, ihn zuerst ausreden zu lassen.
Das Leuchten in seinen Augen gab ihm einerseits Hoffnung, andererseits machte es ihm auch Angst. Die Hoffnung begründete sich auf Benjamins unendlich starke Phantasie, wenn es galt, Komplotte aufzudecken, Wege in abgeschottete Bereiche zu finden oder alle erforderliche Informationen auszugraben. Seine Angst hatte eigentlich die gleiche Grundlage: Bens Phantasie! Er hatte schon die absurdesten Verschwörungen entdeckt und die unterschiedlichsten Gesellschaften, Firmen und Organisationen bezichtigt, die Bevölkerung bewusst zu vergiften, auszuspionieren, zu betrügen oder geistig zu vergewaltigen. Benjamin schaute kein Fernsehen, weil er der Meinung war, dass es sublime Botschaften an das Unterbewusstsein gab, die Menschen Dinge tun ließen, die sie nicht wollten.
Eduard nannte das Werbung , aber Benjamin war nicht von seinen Ansichten abzubringen. Dennoch setzte Eduard alle seine Hoffnungen auf Benjamins Genialität. Er war für ihn eines der herausragenden Beispiele, dass an dem Spruch, Genie und Wahnsinn lägen nah beieinander, wahrscheinlich etwas dran war.
Als er mit seiner Zusammenfassung fertig war, sah Benjamin mehrmals abwechselnd von Gwendolyn zu ihm und wieder zurück.
»Kinder, ist das abgefahren. Ist das eine Riesensache oder ist das eine Riesensache? Wo soll ich da anfangen? Da gibt es ja mehr Ansätze, als ich alleine verarbeiten kann. Aber ihr helft mir doch, oder? Ey Alter, ich bin so froh, dass du mich eingebunden hast. Hast du ihr«, er bewegte kurz den Kopf in Richtung Gwendolyn, »eigentlich von deinen komischen Träumen und dem abgefahrenen Geschmackswechsel erzählt?«
Ausgerechnet das hätte er besser nicht gesagt, hatte Eduard es doch bisher vermieden, seine schöne Begleiterin mit solchen Dingen zu vergraulen.
»Was haben Sie mir verschwiegen, Ed?«
»Haha, was, wie ... Ed? Wie in Mr. Ed? Du? Das sprechende Pferd? Haha!« Benjamin klopfte sich auf die Schenkel, während Eduard abwechselnd ihn böse und Gwendolyn um Verzeihung bittend ansah. Ein schwieriges Unterfangen.
»Raus damit, was haben Sie mir verschwiegen, was sind das für Träume?«
Er hätte am liebsten Benjamin gegen die Kniescheibe getreten, aber der grinste ihn nur unverschämt an und signalisierte, er solle endlich mit der Sprache rausrücken.
Die Situation ließ ihm keine andere Wahl mehr, also erzählte er Gwendolyn alles. Ohne Ausnahme, ohne Beschönigungen, rückhaltlos.
Zu Beginn seiner Schilderungen erntete er ein müdes Lächeln, doch je mehr Einzelheiten er von seinen Träumen, seinem plötzlichen Gefallen an klassischer Musik und seiner neuen Vorliebe für gedämpften Rosenkohl berichtete, desto mehr gefror ihr Lächeln. Schließlich sah sie ihn entgeistert und verwirrt an.
»Was hat das alles zu bedeuten? Das ist doch alles nicht wahr? Wie kann denn so was sein?«
Es waren zwar ganz offensichtlich nur rhetorische Fragen, auf die sie keine Antwort erwartete, aber es waren dennoch gute Fragen. Wenn Eduard ihr sie hätte beantworten können, wäre er froh gewesen. Aber leider war er nicht schlauer als sie und seine Verwirrung war nur aufgrund der längeren Zeitspanne, die er sich mit diesem Phänomen beschäftigte, ein wenig geringer als ihre.
Also blieb ihm nichts anderes übrig als hilflos mit den Schultern zu zucken und ein ratloses Gesicht zu machen.
»Mensch Eddy, mach doch nicht so ein bedrüppeltes Gesicht, nur weil du dieses übersinnliche Phänomen nicht begreifst. Hast du denn die Folge von Akte X nicht gesehen, wo das genauso war? Die, wo Skully und Mulder den Organhändler nur geschnappt haben, weil ein Empfänger eines Organs die Erinnerungen eines Opfers hatte? Wo sie rausgefunden haben, wie die Organhändler ...«
»Ben ...«, blaffte Eduard ihn genervt an, »wie geschmacklos kannst du eigentlich sein? Hast du auch nur einen Moment überlegt, was dein dämliches Gequatsche bei Frau Ahlsbeek anrichtet? Sie hat gerade ihren Bruder verloren, du Hirni.«
Er war richtig sauer und Ben merkte, dass Eduard diesbezüglich keinen Spaß verstand und er erheblich übers Ziel hinausgeschossen war. Entsprechend verlegen schaute er nun aus der Wäsche und sein Fehler schien ihm so peinlich zu sein, dass er ausnahmsweise den Mund hielt.
Gwendolyn schaute mit offenem Mund zwischen den beiden Männern hin und her. Sie setzte mehrmals zum Sprechen an, schloss aber dann wieder den Mund und schüttelte den Kopf.
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