Wie in Trance erreichte sie ihre Wohnung. Ganz langsam, Stufe für Stufe, stieg Enya die Treppe nach oben. Mechanisch öffnete sie die Tür, trat ein und schloss sie wieder hinter sich. Ohne ihre Jacke auszuziehen, ließ sie sich in ihren geliebten Ohrensessel fallen und starrte dumpf vor sich hin. Sie konnte an nichts mehr denken, absolut nichts. Als das Telefon klingelte, schreckte sie aus ihrer Lethargie hoch.
Peters Nummer leuchtete auf dem Display. Was wollte der Mistkerl noch von ihr? Sie würde nie mehr mit ihm sprechen. Jetzt jedenfalls nicht!
Enya stand auf, sie sollte endlich ihre Jacke ausziehen. Ganz am Rande nahm sie wahr, dass sie stark zitterte. Außerdem war ihr plötzlich kalt. Das Beste war, sie würde sich hinlegen und ein wenig ausruhen. Kaum hatte sie sich in die Decke gekuschelt, da brachen auch schon die Dämme. All ihre Enttäuschung, Scham und Wut ließen sie herzzerreißend schluchzen. Als sie keine Tränen mehr hatte, sank sie endlich in einen unruhigen Schlaf.
*
Am Abend telefonierte sie mit ihrer Mutter. Enya gab sich fröhlich und zuversichtlich, als sie ihr ihren Entschluss, nach Irland zu fliegen, mitteilte.
»Es ist verständlich, dass du das Haus und die Gegend, in der dein Vater groß geworden ist, einmal kennenlernen möchtest. Aber muss es denn unbedingt zu diesem Zeitpunkt sein? Ich halte das nach wie vor für keine gute Idee. Trotzdem wünsche ich dir eine schöne Zeit auf der Insel. Ruf mich bitte gleich an, wenn du angekommen bist.«
Die Mutter gab ihr noch die obligatorischen Warnhinweise für die Reise mit auf den Weg. Brav versprach sie, kein Leitungswasser zu trinken, die Matratzen zu kontrollieren und unter allen Umständen nicht allein abends in irgendwelche Pubs zu gehen. Dann endete das Gespräch.
***
Flughafen gefahren. Als sie das Flugticket am Schalter abholen wollte, das die Kanzlei dort für sie hinterlegt hatte, erwartete sie jedoch eine freudige Überraschung: Sie würde in der Business-Class reisen! Eine freundliche Dame vom Bodenpersonal begleitete Enya zu den speziell für diese Buchungsklasse reservierten Schaltern. Da nur zwei Reisende vor ihr standen, war sie sofort an der Reihe. Man informierte sie darüber, dass auch ihr Gepäck, einen besonderen Service erfuhr. Im Rahmen einer sogenannten Priority-Baggage-Regelung würde sie in Dublin ihr Gepäck noch vor den Fluggästen der Economy-Class erhalten.
Jetzt saß sie in der Business-Lounge in einem Clubsessel, nippte an ihrem Orangensaft und genoss den Luxus, der sie umgab. Durch die riesigen Panoramafensterscheiben konnte sie hinaus auf das Flugfeld sehen. Im Minutentakt starteten und landeten die Maschinen. Eines dieser Flugzeuge wird mich nach Dublin bringen, dachte sie aufgeregt.
Während sie auf den Notar wartete, ließ Enya sich die Ereignisse der letzten Tage noch einmal durch den Kopf gehen. Ständig war sie in ihrem Entschluss, nach Irland zu fliegen, hin- und hergeschwankt. Beinahe hätte sie alles abgesagt. Die Angst, nicht alle Vorkehrungen rechtzeitig treffen zu können, versetzte sie zusätzlich in Hektik. Aber so war sie abgelenkt und konnte ihre verletzten Gefühle gut verdrängen.
Am Sonntagmorgen klingelte Peter ein paarmal hintereinander an ihrer Haustür, aber sie hatte keine Lust verspürt, ihn zu sehen. Sie wollte keine Entschuldigungen hören, sie wollte nicht verzeihen. Die eingegangene Nachricht von ihm in ihrer Mailbox löschte sie mit einem energischen Fingerdruck.
Da entdeckte sie ihren Reisebegleiter am Eingang zur Lounge. Er winkte kurz, als er auf sie zukam. »Guten Morgen, Frau O’Bryan«, grüßte er munter. Als er ihr blasses Gesicht bemerkte, stutzte er. »Geht es Ihnen nicht gut?«
»Nein, Nein. Alles okay. Die letzten Tage waren nur etwas anstrengend für mich«, beruhigte sie ihn.
»Ja, gewiss. Das verstehe ich vollkommen.« Er beugte sich über seine Aktentasche, entnahm ihr einen dicken wattierten Umschlag und reichte ihn Enya. »Das möchte ich Ihnen vor unserem Abflug noch geben. Im Umschlag befinden sich Flug- und Bustickets für die Weiterreise nach Clarecastle. Es gibt noch eine Liste mit den Kontaktdaten für die Dubliner Kanzlei, die Hamburger Kanzlei und meine persönlichen Verbindungsdaten. Meine Sekretärin hat für alle Fälle Adressen von Hotels und Pensionen vor Ort für sie ermittelt. Sollte es einen Notfall geben oder Sie bekommen Probleme, scheuen Sie sich nicht, meine private Handynummer zu wählen.«
Enya nahm den Umschlag entgegen und danke ihm für seine Hilfe.
»Nicht dafür«, sagte er bescheiden. »Da ist noch etwas Wichtiges. Der Schlüssel zum Anwesen liegt noch auf der örtlichen Station der Garda in Clarecastle. Die Station ist wochentags allerdings nur bis 18:00 Uhr besetzt.«
»Auf der Garda?« Sie schaute ihn fragend an.
»Mit Garda bezeichnet man die Polizei in Irland.«
Bevor sie ihn noch danach fragen konnte, warum ausgerechnet die Polizei den Schlüssel verwahrte, wurde sie vom Aufruf zum Boarding unterbrochen. Herr Schröder erhob sich prompt. »Später berichte ich mehr. Lassen Sie uns jetzt lieber an Bord gehen. Wir haben zwei Stunden Flug vor uns. Genug Zeit also.« Sie griff nach ihrer Umhängetasche und folgte ihm.
*
Enya staunte über die komfortablen Sitze. Kaum hatte sie Platz genommen, räkelte sie sich auf ihrem mit samtweichen Velours bezogenen Flugzeugsessel. Allein dieser Flug ist Wellness pur, dachte Enya selig und entspannte sich völlig.
Während der ersten Stunde des Fluges unterhielt der Anwalt Enya mit lustigen Anekdoten und Geschichten aus Irland. Nach einer Weile entschuldigte er sich damit, noch ein paar Unterlagen vor der Landung sichten zu müssen. Er holte eine braune Mappe aus seinem Aktenkoffer und begann, den Inhalt der Mappe zu studieren.
Enya nutzte die Gelegenheit, den Umschlag mit den Reiseunterlagen zu inspizieren. Chantal hatte wirklich an alles gedacht! Auch an die Tickets für die Rückreise in einer Woche. Wenn sie wieder in Hamburg war, würde sie sich bei ihr mit einem Blumenstrauß bedanken.
Der Reiseplan sah vor, dass Enya eine Stunde nach ihrer Landung in Dublin weiter nach Limerick fliegen würde. Von Limerick aus fuhr dann ein Linienbus nach Clarecastle. Das hörte sich ja alles ganz einfach an.
*
Nach zwei Stunden Flug ohne große Turbulenzen landete die Maschine planmäßig in Dublin. Enya hatte sich schon vom Anwalt verabschieden wollen, um sich zum Terminal für Inlandsflüge zu begeben, da hielt er sie noch einmal auf.
»Frau O´Bryan, da ist noch etwas, das Sie besser wissen sollten. Sie erinnern sich bestimmt an unser Gespräch in der Kanzlei. Ich sprach von erschwerenden Begleitumständen bei der Vermächtnis Vollstreckung.«
»Leider erinnere ich mich nicht mehr an alles so genau«, räumte Enya ein.
»Nun, ein erschwerender Begleitumstand war die Art und Weise, wie Glen O´Bryan gestorben ist. Die Gründe, die zu seinem Tod geführt haben, sind etwas mysteriös und werden wohl nie vollständig aufgeklärt. Die Garda stufte später seinen Tod als einen bedauerlichen Unfall mit Todesfolge ein. Der Leichnam wurde vor kurzem von der Forensik freigegeben und soll an diesem Freitag in Clarecastle im Familiengrab beigesetzt werden. Solange die Ermittlungen liefen, wurde der Schlüssel für das Anwesen auf der Polizeistation verwahrt. Wie gesagt, jetzt können Sie den Schlüssel dort abholen.« Der Anwalt verabschiedete sich und überließ eine verdutzte Enya ihrem Schicksal.
Die Mitteilung des Anwalts versetzte ihrer Hochstimmung einen kleinen Dämpfer. Ernüchtert strebte sie, den Rollkoffer hinter sich herziehend, dem Terminal für Inlandflüge entgegen. Es gab nur einen Schalter und Enya stand eine halbe Stunde in der Warteschlange, bis sie an der Reihe war. Nach den üblichen Sicherheitskontrollen und der Gepäckaufgabe nahm sie eine weitere halbe Stunde in einem nüchternen Wartesaal Platz. Hier saß man nicht in bequemen Clubsesseln und schlürfte seinen Orangensaft. Hier saß man auf einfachen Plastikstühlen mit Stahlrohrfüßen und die Getränke kamen aus dem Automaten. Willkommen in der Economy-Class, Enya O´Bryan , dachte sie belustigt.
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