Während Enya an ihrem Kaffee nippte und auf die spiegelnde Fläche der Außenalster hinausblickte, fiel allmählich alle Anspannung von ihr ab. Das Gespräch mit ihrer Mutter hatte ihr gutgetan. Leider wusste auch ihre Mutter so gut wie nichts über die Familie ihres Mannes. Padraig hatte nach ihrer Hochzeit nur ein einziges Mal von seinem jüngeren Bruder Glen erzählt. Dies waren damals ein paar Episoden aus der gemeinsamen Kindheit und dem Leben in Irland. Warum er den Kontakt zu seinem Bruder abgebrochen hatte, wusste sie nicht. Ihre Mutter hegte aber immer schon den Verdacht, dass die beiden mehr als nur die räumliche Distanz trennte.
»Wenn das Wenige stimmt, was der Anwalt dir über Glen erzählen konnte, verstehe ich Padraig vollkommen!« Ihre Mutter war überrascht, als sie hörte, dass der Vater ihres Mannes damals noch gelebt hatte. Ihr hatte Padraig erzählt, sein Vater sei tot. »Ich habe deinen Vater, so wie er war, sehr geliebt. Seine Vergangenheit oder seine Familie waren für mich nicht von Bedeutung. Dass er nicht über seine Familie sprechen wollte, habe ich immer respektiert. Auch wenn er die Gründe dafür nie preisgab«, hatte ihre Mutter mit fester Stimme versichert.
Als Enya das beträchtliche Erbe des Großvaters schilderte, war ihre Mutter sichtlich beeindruckt und freute sich für ihre Tochter. »Das ist ja wunderbar und wie romantisch das klingt! Ein Landhaus in Irland. Ich freue mich ja so für dich, meine Kleine! Deinen Sommerurlaub könnten wir dann dort in Zukunft gemeinsam verbringen.«
An dieser Stelle unterbrach sie ihre Mutter rasch und berichtete über die vielen ungeklärten Details und nicht gerade unproblematischen Bedingungen des Testaments. »Nur vier Wochen hast du Zeit? Und der Anwalt sagt, die Klausel kann man nicht anfechten? Auf keinen Fall kannst du dein Leben hier so einfach hinwerfen!«, hatte ihre Mutter ihr noch sehr beunruhigt entgegnet, als sie das Gespräch beendeten.
Um die Mittagszeit füllten sich die Tische des Cafés merklich. Mittlerweile wurde es laut und Enya konnte nicht mehr ungestört ihren Gedanken nachhängen. Es war Zeit aufzubrechen. Nach Hause wollte sie aber noch nicht gehen.
Warum fuhr sie nicht doch ins Alte Land? Sich die Sonne ins Gesicht scheinen und vom Wind die grauen Gedanken aus dem Kopf fegen lassen?
Sie zahlte, verließ das Café und ging zügig zurück zum Parkplatz. Auf dem Weg dorthin streifte ihr Blick die Auslagen eines Buchladens auf der anderen Straßenseite. Es konnte nicht schaden, dort nach einem aktuellen Irland-Reiseführer zu fragen, dachte sie und ging hinüber.
Kaum eine halbe Stunde später saß sie am Steuer ihres Wagens, hörte ihre Lieblingsmusik und fuhr aus der Stadt hinaus in Richtung Altes Land.
***
Am Morgen schien die Frühlingssonne fröhlich durch das geöffnete Fenster auf ihren Frühstückstisch. Gestern hatte Enya in einem Hofladen ein knuspriges Landbrot und ein Glas Kirschmarmelade gekauft. Beides ließ sie sich heute Morgen schmecken. Nach all den unerwarteten und verwirrenden Informationen vom Vortag hatte ihr die Landluft gutgetan und sich ihr Gemüt etwas beruhigt.
Während Enya eine weitere Brotscheibe dick mit Marmelade bestrich, kam ihr der merkwürdige Traum der letzten Nacht in den Sinn. Im Traum besuchte sie ein Fest auf einem großen Landsitz. Unzählige fremde, gesichtslose Menschen füllten den Ballsaal dieses Landsitzes. Die mondäne Szenerie wurde von Kristall Kandelabern an den Wänden des Saales geheimnisvoll erleuchtet. In ihrem Licht schimmerten die langen Roben der Damen besonders edel. Sie erinnerte sich, dass auch sie ein langes Kleid trug und sie konnte sich ganz deutlich an seine intensiv grüne Farbe erinnern. Ach, und Walzer hatte sie getanzt! Sie und tanzen? Enya musste lächeln. Zuletzt war sie vor fünf Jahren auf einem dieser Partyschiffe im Hamburger Hafen gewesen. Dort hatte Peter ihr ein Glas Sekt spendiert und sie lernten sich kennen. Getanzt hatten sie beide aber nicht miteinander. Verwundert fragte sie sich, ob Peter überhaupt Walzer tanzen konnte.
Enyas Gedanken kehrten zu ihrem Traum zurück. Da war doch noch was? Etwas mit ihrem Hals …, jetzt erinnerte sie sich wieder! Sie trug ein funkelndes Halsband. Aber plötzlich begannen immer mehr Gestalten sie zu umringen und dabei bedrohlich auf ihren Hals zu starren. Als diese seltsamen Geschöpfe dann auch noch begannen nach dem Schmuck zu greifen, war sie aufgewacht. Enya trank den letzten Schluck von ihren Kaffee und schüttelte über so viel nächtliche Fantasie den Kopf.
Ihr Blick fiel auf die Kopie des Testaments auf dem Tisch vor ihr. Gestern Abend, als sie müde von ihrem Ausflug nach Hause kam, war sie sofort schlafen gegangen. Die Tasche, mit den Unterlagen des Anwalts und dem neuen Reiseführer darin hatte sie einfach auf dem Küchentisch abgelegt. Sie griff nach dem Testament und studierte es gründlich. Dann nahm sie den Reiseführer und blätterte ein wenig darin. Verträumt betrachtete sie sich die reizvollen Landschaftsfotos. Irland ist wirklich schön, dachte sie sehnsüchtig. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich in einem romantischen Landhaus umherwandeln, umgeben von üppig grünen Wiesen. Es konnte doch wirklich nicht schaden, sich das Haus, in dem ihr Vater geboren wurde, einmal anzusehen. Dann hätte sie auch ein wenig mehr Zeit, um sich zu entscheiden. Es war so einfach, Ja zu sagen.
Sie schaute auf die Uhr, schon elf Uhr! Es war an der Zeit, Peter von den spannenden Entwicklungen in ihren Leben zu berichten. Jetzt war er bestimmt in seiner neuen Galerie und bereitete alles für die Vernissage in der kommenden Woche vor. Enya erhob sich vom Stuhl. Statt Peter vorher anzurufen, würde sie ihn einfach einen überraschenden Besuch abstatten. Auch wenn sie befürchten musste, dass Peter sich wie üblich bei seiner Arbeit gestört fühlen würde. Sie wollte die ganze Angelegenheit aber lieber nicht am Telefon mit ihm erörtern.
Im Übrigen war es keine schlechte Idee, sich diese Galerie einmal genauer anzusehen, bevor sie ihr Geld in sie investierte.
*
Eine Stunde später parkte sie ihren Wagen in einer Seitenstraße ganz in der Nähe. Als sie vor den großen Scheiben der eleganten Fassade stand, war sie einigermaßen beeindruckt. Peter hatte nicht übertrieben, das war wirklich eine 1-a-Lage. Plötzlich kamen ihr Zweifel, die monatliche Miete für so einen Laden war doch bestimmt exorbitant? Lief Peter etwa Gefahr, sich mit seinem neuen Projekt zu übernehmen? Es wäre ratsam, sich diesmal die Business-Pläne genauer anzusehen. Noch hatte sie das Geld ja nicht überwiesen. Aber das musste jetzt warten, bis sie aus Irland zurückkehren würde.
Enya wendete sich gerade zur Eingangstür, als ihr Blick durch die Scheibe fiel. Eine Bewegung im hinteren Teil des Raumes hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt. Unvermittelt wurde ihr bewusst, was sie da sah … Peter umarmte seine Assistentin Cornelia Kampe und das alles andere als brüderlich! Seine Hand lag auf ihrem Busen und er küsste sie leidenschaftlich. Enya konnte sich nicht mehr rühren. Fassungslos musste sie auf die intime Szene vor ihren Augen starren.
Im selben Moment, als Peter den Kuss beendete und aufblicke, entdeckte er Enya draußen auf der Straße. Er sah ihr direkt in die Augen. Das löste sie aus ihrer Starre. Ruckartig drehte sie sich um und hastete zurück in Richtung ihres Autos. Hinter ihr hörte sie Peter laut ihren Namen rufen. Enya begann zu rennen.
Außer Atem erreichte sie den Wagen. Ungeschickt nestelte sie nach dem Schlüssel, sie wollte nur noch fort von hier. Minuten später hatte sie sich in den Verkehr gereiht und fuhr nach Hause. Wie blind starrte sie auf die Fahrbahn. Unablässig gingen ihr immer wieder dieselben Worte durch den Kopf. Peter betrügt mich, Peter betrügt mich …
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