Enya lehnte sich zurück in ihren Sessel und kreuzte abwehrend die Arme vor der Brust. »Nun gut. Gehen wir davon aus, es handelt sich tatsächlich um meinen Großvater. Was bedeutet das konkret für mich?«
Herr Schröder war erleichtert darüber, dass Enya ihm allmählich glaubte. »In diesem Fall ist es wohl besser, wenn ich die begleitenden Umstände, die zu Ihrem Legat geführt haben, ausführlicher schildere.« Er räusperte sich kurz. »Wie schon gesagt, vor ungefähr einem halben Jahr wurden wir von unserem Partner in Dublin bei der Abwicklung einer Erbschaftsangelegenheit hinzugezogen. Der Erblasser, Ihr Großvater Cedric O’Bryan, hatte bekanntermaßen zwei Nach-kommen. Seine Söhne Padraig und Glen …«
An dieser Stelle unterbrach ihn Enya rüde. »Augenblick, Herr Schröder! Es tut mir ja schrecklich leid, aber sie haben sich die ganze Mühe doch umsonst gemacht. Bei dem Verstorbenen kann es sich nicht um meinen Großvater handeln. Mein Vater hatte keine Brüder«, erklärte sie lächelnd. »Nun, soweit ich weiß ist der Name O’Bryan recht gebräuchlich in Irland. Der Irrtum ist also durchaus verzeihlich.« Sie erhob sich, streckte dem Anwalt die Hand entgegen und wollte gehen.
»Bitten haben Sie doch etwas Geduld und nehmen wieder Platz, Frau O’Bryan.« In einem leicht konsternierten Tonfall fuhr er fort. »Natürlich prüft unsere Kanzlei sorgfältig und gewissenhaft sämtliche erforderlichen Daten aus Urkunden, Geburtsregistern oder Meldebehörden, bevor wir mit einem potenziellen Erbe in Kontakt treten. Das versteht sich natürlich von selbst. So ist es auch in dieser Erbschaftsangelegenheit geschehen. Bitte akzeptieren Sie die Tatsache, dass Sie einen Onkel haben.«
Zögerlich setzte Enya sich wieder.
»Ich darf wohl fortfahren. Wo waren wir stehengeblieben?« Er sammelte sich kurz. »Also, Ihr Vater und ihr Onkel Glen wären üblicherweise nach dem Tod des Vaters erbberechtigt gewesen.«
Enya nickte. »Ja, ich verstehe.«
»In diesen Fall verhält es sich aber etwas komplizierter. Cedric O’Bryan hat nämlich beide Söhne vom Erbe ausgeschlossen. Padraig wurde laut Testament enterbt, weil er das Land für immer verließ und in Deutschland leben wollte. Sollte Padraig aber leibliche Nachkommen haben und diese gewillt sein, für immer in Irland zu leben, würde der gesamte Besitz dann an seinen ältesten Nachkommen gehen.«
»Wie ich sehe, hielt mein Großvater nicht viel von seinen Söhnen. Warum wurde denn Glen enterbt?«, erkundigte sich Enya, nun doch neugierig geworden.
»Im Testament wird sein Lebenswandel als Begründung für den Ausschluss vom Erbe benannt. Und in der Tat sprach dieser auch nicht gerade für ihn«, meinte der Anwalt zögerlich. »Glen musste sich für dubiose Geschäfte mehrfach vor Gericht verantworten. Außerdem hatte er ein Verhältnis mit einer Frau, deren Moral für die damalige Zeit etwas fragwürdig war. Aus eben dieser Verbindung soll auch ein uneheliches Kind hervorgegangen sein. Das war damals wie heute im katholischen Irland ein die Familienehre beschmutzender Schandfleck. Deshalb schloss ihr Großvater auch Glens Nachkommen vom Erbe aus. Erbberechtigt sind nunmehr Padraigs leibliche Nachkommen. Also Sie, Frau O’Bryan.«
»Wow«, entfuhr es Enya unwillkürlich. »Dann ist mein Onkel Glen also das sprichwörtliche Enfant terrible der Familie«, versuchte sie zu scherzen.
Der Anwalt blieb ernst. »Er war es, Frau O’Bryan. Er war es. Glen O’Bryan ist am 18. Dezember letzten Jahres in der Grafschaft Banner in Irland verstorben.«
»Aha!«, meinte sie nur.
Der Anwalt fuhr fort. »Aus meiner Sicht hatte ihr Großvater durchaus nachvollziehbare Gründe für seine Entscheidung.«
»Verstehe, er hatte offensichtlich eine sehr genaue Vorstellung davon, wie mit seinem Nachlass zu verfahren sei«, antwortete Enya trocken.
»Immerhin räumte Cedric O’Bryan seinem Sohn Glen ein lebenslanges Wohnrecht auf dem Anwesen der Familie ein.«
Das Gespräch stockte.
»Wann ist mein Großvater eigentlich gestorben?«, wollte Enya plötzlich wissen.
»Warten sie, ich muss nachsehen.« Herr Schröder blätterte in der Akte auf dem Schreibtisch. »Ihr Großvater Cedric verstarb im 7. März 1986.«
»Mein Vater ist im November 1985 gestorben«, sagte sie leise und fuhr fort: »Dann ist mein Großvater also relativ kurz nach seinem Sohn gestorben.« Der Anwalt nickte bestätigend.
Enya stutzte. »Sie haben ja wirklich lange gebraucht, um die Erben ausfindig zu machen? Wie viele Jahre ist das her? Vierundzwanzig?«
»Es gibt zwei Gründe, die eine frühere Eröffnung des Testamentes vereitelt haben«, entschuldigte sich der Anwalt. »Wie sich erst jetzt herausstellte, hat ihr Onkel nach dem Tod des Vaters dessen Testament vernichtet. So konnte er sich über zwei Jahrzehnte lang in den alleinigen Besitz der Erbmasse bringen.«
»Vernichtet? Und woher stammt dann dieses Testament?«, fragte sie irritiert.
»Lassen sie mich das näher erklären. Ans Licht kam sein Betrug überhaupt erst durch einen kuriosen Zufall. Der Notar, bei dem Ihr Großvater das Testament hinterlegt hatte, war ein älterer Herr. Etwa zur selben Zeit, als ihr Großvater verstarb, ging der Notar in den Ruhestand. Es dauerte dann längere Zeit, bis man einen Nachfolger für die Praxis fand. Aus unbekannten Gründen wurde dem Testament dann nicht die nötige Beachtung geschenkt und es verschwand im Archiv. Vor kurzem wurde eben dieses Archiv aus Platzmangel geräumt. Dabei ist das Testament ihres Großvaters wieder aufgetaucht. Das hat den Stein ins Rollen gebracht.«
Sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Das war alles so verworren. Der Anwalt ließ ihr etwas Zeit, das eben Gehörte zu verarbeiten, dann schaute er auf seine Armbanduhr. »Ich würde jetzt gerne das Testament verlesen. Wenn Sie dann so weit wären?«
»Ich denke, ich bin so weit«, antwortete sie gefasst.
»Das Original Dokument wird in der Kanzlei in Dublin zu treuen Händen verwahrt. Wenn Sie einverstanden sind, werde ich jetzt eine Übersetzung des Testaments verlesen.« Er deutete auf ein Schriftstück, das vor ihm lag.
Enya nickte nur.
Er nahm das Schriftstück in die Hand und begann zu lesen: »Letzter Wille und Vermächtnis von Cedric Finn O’Bryan, geboren am 11. März 1922 in der Grafschaft Clare, Sohn von Torin Finn O’Bryan und Maisie O’Bryan, geborene Walsh. Ich, Cedric Finn O’Bryan, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, verfüge hiermit …«
Enya schwirrte der Kopf und sie hatte Mühe den monoton vorgetragen Ausführungen zu folgen.
»… die Erbeinsetzung steht unter der auflösenden Bedingung der Nichterfüllung der vorbezeichneten Auflagen, die im Folgenden benannt werden …«
Ihre Gedanken schweiften ab. Ihre Mutter sollte es als Erste erfahren. Zu dumm, dass sie sich gerade in Spanien aufhielt. Die Telefonverbindung war nicht besonders stabil.
Der Anwalt las immer noch. »… ausschließlich seine leiblichen Nachkommen erhalten alle beweglichen und unbeweglichen Güter im Haus, dem Anwesen …«
Vielleicht wusste ihre Mutter ja etwas über ihren Schwager, den Bruder ihres Vaters. Wieder drang die Stimme des Anwalts in ihr Bewusstsein.
»… bezeugt und unterschrieben.« Es folgte Stille.
»Haben Sie das Testament verstanden, Frau O’Bryan? Insbesondere den Abschnitt mit den auflösenden Bedingungen, die für Sie von Bedeutung sind?«
Ihr Kopf war völlig leer. Nichts von dem, was er da eben vorgelesen hatte, war zu ihr durchgedrungen. »Es ist mir ein wenig peinlich, aber ich muss zugeben …«, sie unterbrach sich. »Können Sie mir bitte in einfachen Worten erklären, was mir mein Großvater da nun eigentlich hinterlassen hat?«
Herr Schröder hatte Verständnis. »Gerne. Es ist für Laien nicht immer einfach, Testament Texte zu verstehen. Kurz gefasst, Frau O’Bryan, sie erben ein Haus in Clarecastle, den Grund und Boden auf dem das Haus steht, die Nutzungsrechte über mehrere Hektar Wald- und Wiesenflächen und etwas Schmuck.«
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