Sie nippte wieder an ihrem Tee, schaute hinaus aus dem Fenster und beobachtete die wenigen vorbeifahrenden Autos. An diesem verregneten Apriltag wurde es früh dunkel. Bald schien es ihr, als wolle sich sogar das Wetter, allein aus Mitgefühl, an ihre düstere Stimmung angleichen. Eigentlich war das restliche Geld aus dem Erbe ihrer Großmutter Alma für etwas ganz Besonderes verplant. Seit Jahren hatte sie nun schon im Stillen vorgehabt eine Reise nach Irland zu unternehmen. Enya seufzte. Sehnsüchtig schaute sie auf die in der Dämmerung liegende Straße. »Ade, ihr schönen Urlaubspläne. Ade Irland und ade ihr wildromantischen Cliffs of Moher.« Sie würde wohl nie die Heimat ihres Vaters kennenlernen.
Unvermutet musste sie jetzt an Padraig, ihren irischen Vater denken. Er war als Dozent für mittelalterliche Geschichte an der Universität in Hamburg tätig gewesen. Padraig O’Bryan war in den Sechzigerjahren zum Studium nach Deutschland gekommen, hatte ihre Mutter Charlotte kennengelernt, geheiratet und war für immer geblieben. Ihr Vater war früh an Krebs verstorben, sie war damals gerade einmal zehn Jahre alt gewesen. Ihre Mutter, eine Englischlehrerin am St. Ursula Gymnasium, hatte sie allein großgezogen. Das heißt, eigentlich war es Charlottes Mutter Alma gewesen, die sich um sie gekümmert hatte. Alma hatte sie beide nach dem Tod ihres Vaters kurzerhand zu sich geholt. Ihre Großmutter hatte versichert, dass die vielen Zimmer in ihrem alten Haus ohnehin leer stünden. Charlotte müsse ja nun allein für Enya sorgen und wieder arbeiten gehen. Damit das Kind nicht den ganzen Tag sich selbst überlassen bliebe, wäre es nur praktisch, wenn sie beide bei ihr wohnten.
Enya runzelte die Stirn. Merkwürdig, ihren Vater hatte sie nie besonders vermisst. Sie hatte kaum noch konkrete Erinne-rungen an ihn. Wenn sie an ihren Vater dachte, sah sie ihn immer an dem alten Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer sitzen, über ein Buch oder Manuskript gebeugt. Der Vater nannte sie immer zärtlich seine kleine irische Prinzessin. Als Gute-Nacht-Geschichte hatte er ihr oft eine alte Legende über eine Prinzessin mit dem Namen Enya erzählt. Sie zog die Augenbrauen zusammen. Angestrengt versuchte sie sich ins Gedächtnis zu rufen, wovon genau die Legende gehandelt hatte. Aber sie erinnerte sich nur noch vage daran, wie die Prinzessin wegen einer düsteren Prophezeiung von ihrem Vater, dem König, in einen Turm gesperrt wurde. Natürlich befreite ein tapferer Prinz sie und lebte glücklich und zufrieden mit ihr bis an das Ende aller Tage.
Unvermittelt musste sie schmunzeln. Natürlich, ihr Haar! Ihren roten Lockenkopf hatte sie von ihrem Vater geerbt, ebenso wie seine Liebe zur Geschichte. Und, wie ihre Mutter jedenfalls nie müde wurde zu betonen, den Hang zur Unordnung. Sie nannte es lieber ihr kreatives Chaos. Langsam wurde es dunkel und die Laternen vor dem Haus tauchten die Straße in ein diffuses orangefarbenes Licht. Gedankenverloren drehte Enya die halbvolle Tasse in ihren Händen hin und her. Der Tee war nun endgültig kalt.
Ja, diese beiden starken Frauen, ihre Mutter und ihre Großmutter, hatten nicht viel Raum für die Sehnsucht nach einem Vater in ihr aufkommen lassen. Beide vermieden es, über ihn zu sprechen, und Enya hatte auch nicht gefragt. Wenn sie es recht bedachte, wurde in ihrer Familie eigentlich nie viel über die Vergangenheit gesprochen. Ihre Großmutter Alma war stets eine pragmatische Frau gewesen, sie zitierte nur zu gerne den Spruch: »Die Vergangenheit kann nicht verändert werden. Aber die Zukunft hältst du noch in deinen Händen.
Jetzt war ihre Großmutter schon eine Reihe von Jahren tot und das alte Haus verkauft. Nach Abzug der Hypotheken konnte sie damals mit dem Geld ihr Studium für Geschichte finanzieren und später diese kleine Wohnung kaufen. Ihr Blick schweifte ziellos im Dämmerlicht durch den Raum und blieb an den hohen Regalen mit ihren geliebten Büchern hängen. Es waren auch die Bücher ihres Vaters darunter. Wieder musste sie an ihre geplante Reise nach Irland denken. Mit dem kleinen Rest ihres Erbes wollte sie diese Reise antreten und sich damit einen lang gehegten Wunsch erfüllen.
Sie fröstelte leicht und zog sich die Wolldecke enger um die Schultern. Seit Jahren hatte sie keinen Urlaub mehr gemacht. Entweder musste ein Kollege vertreten, ein Projekt am Laufen gehalten werden oder Peter hatte gerade keine Zeit für sie erübrigen können. Ach ja, Peter, sie schnaubte. Ihre verflixte Schwäche für ihn! Enya sprang vom Sessel auf, warf die Wolldecke hinter sich und streckte die steifen Glieder.
»Schluss mit den trüben Gedanken!« Sie war müde, es war spät geworden und es war vernünftiger, schlafen zu gehen. Im Geiste hörte sie noch ihre Großmutter sagen: »Morgen mein Kind, sieht alles ganz anders aus!«
Enya seufzte leise. Tat es das nicht irgendwie immer? »Morgen scheint wieder die Sonne«, flüsterte Sie.
Ja, Morgen.
***
Geweckt vom leisen Summen ihres Weckers auf dem Nachtisch, erwachte Enya nur langsam. Benommen blickte sie auf die grünlichen Ziffern des kleinen schwarzen Weckers und versuchte zu erkennen, wie spät es war. Es war 7:00 Uhr, wie üblich.
Sie drückte die Schlummertaste, schloss wieder die Augen und rollte mit einem leisen Seufzer zurück auf das Kissen. Sie wollte noch ein wenig dösen. Die Nacht war viel zu kurz und dann dieser seltsame Traum. Was in aller Welt hatte sie da nur auf einem Pferd verfolgt? Zerstreut musste sie daran denken, dass sie doch gar nicht reiten konnte.
Stück für Stück erinnerte sie sich nun wieder. Als der Wecker ihren Schlaf unterbrochen hatte, konnte sie noch deutlich ein männliches Gesicht wahrnehmen. Irgendwie ging von diesem Mann etwas Bedrohliches aus und sie hatte im Traum verzweifelt versucht zu fliehen. Enya stöhnte, was für ein konfuses Zeug hatte sie da nur geträumt!
Prompt musste sie an den gestrigen Tag und seinen unbefriedigenden Verlauf denken. Schuld an dem Albtraum waren bestimmt ihre Grübeleien gewesen, über Peter und das Geld für seine Pläne, das sie lieber für eine Reise nach Irland verwendet hätte und mit dem sie nun seine Galerie finanzierte. Natürlich, so musste es sein! Jetzt verfolgten sie Peters Eskapaden schon bis in ihre Träume!
Ihre Gedanken begannen sich zu zerstreuen und sie war kurz davor, wieder einzuschlummern. Leise murmelte sie: »Aber Peter hat doch keine blonden Haare.«
Der Wecker summte erneut, nur ein wenig lauter als zuvor. Sie linste mit nur einem offenen Auge zum Wecker. Jetzt war es 7:15 Uhr. Es wurde langsam Zeit aufzustehen, sonst musste sie so hetzen. Das hasste sie.
Sie gab sich einen Ruck, schlug die Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante auf den Boden. Zum Glück ist heute Freitag, dachte sie, streckte die Arme über den Kopf und gähnte ausgiebig. Da endete ihr Arbeitstag erfreulicherweise schon am Mittag. Sie ging zum Fenster, öffnete die Vorhänge und schaute nach dem Wetter. Dasselbe trübe Aprilwetter wie gestern bemerkte sie beiläufig. Enya nahm sich fest vor, den Schirm heute nicht zu vergessen. Jetzt brauchte sie eine schöne heiße Tasse Kaffee, dann würde die Welt schon viel freundlicher aussehen.
Der Kaffee weckte nicht, wie erwartet, ihre Lebensgeister. Lustlos knabberte sie an ihrem Marmeladenbrot. Plötzlich kam ihr der Gedanke, wie schön es wäre, mal wieder hinaus ins Alte Land zu fahren. Die Obstbäume begangen sicher schon zu blühen. Der Gedanke heiterte sie augenblicklich auf. Sie hatte doch noch zwei Tage Resturlaub. Zwar müsste sie vorher zur Fakultät fahren und im Sekretariat Bescheid geben, aber dann stand einem Ausflug ins Grüne nichts mehr im Wege. Enya überlegte, ob sie nicht vorsorglich einen kleinen Koffer für ein oder zwei Nächte packen sollte. Wenn sie eine gemütliche Pension fand, konnte sie doch länger als einen Tag bleiben.
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