Ein Haus in Irland! Schoss es ihr durch den Kopf. Enya musste bei dem Gedanken unvermittelt lächeln.
»Ich sehe, Frau O’Bryan, sie freunden sich mit dem Gedanken, eine Erbin zu sein, mehr und mehr an«, meinte der Anwalt erleichtert. »Was den Schmuck anbetrifft …«, er zögerte. »Im Testament wird eine mit Diamanten und Smaragden besetzte Parure beschrieben. Eine Schmuckkombination, oder Teile davon, konnten aber bisher nicht aufgefunden werden. Auch die polizeilichen Ermittlungen ergaben keine Beweise für die wirkliche Existenz des Schmucks. Es wird angenommen, dass Ihr Großvater etwas vererben wollte, das nicht oder nicht mehr in seinem Besitz war. Vielleicht hat auch Ihr Onkel den Schmuck bereits verkauft.«
Von sich selbst überrascht empfand sie tiefe Traurigkeit über den vermeintlichen Verlust des Familienschmucks. Sofort schüttelte Enya diesen Gedanken wieder ab. Unsinn, man kann nicht vermissen, was man nie besessen hat! , beruhigte sie sich. »Ich kann meinen Onkel ohnehin nicht mehr zur Verantwortung ziehen«, antwortete sie leichthin. »Was kommt jetzt auf mich zu? Was muss getan werden, wenn ich das Erbe antreten möchte?«
»Zum einen haben Sie die Möglichkeit, die Kanzlei Schröder & Kleinschmidt zu beauftragen, alle erforderlichen Formalitäten bei den Behörden in Deutschland und in Irland für Sie zu erledigen. Zu diesem Zweck müssen Sie uns eine Vollmacht ausstellen. Zum anderen können Sie sich in den Dschungel der deutschen und irischen Behörden begeben. Besonders in Irland kämen dann eventuell noch Sprachprobleme hinzu.«
»Die Sprache wird kein Problem für mich darstellen. Zu Hause wurde deutsch und englisch gesprochen. Meine Mutter war Englischlehrerin«, entkräftete Enya seinen Einwand. »Was mir mehr Sorgen bereitet, sind der Umgang mit Behörden und das richtige Ausfüllen von Formularen.« Sie war ja schon vollkommen entnervt, wenn sie auch nur ihren Ausweis verlängern lassen sollte. Enya sah sich schon stundenlang in öden Wartezimmern irgendwelcher Behörden herumsitzen und endlose Formulare ausfüllen. Da war die erste Variante mit der Vollmacht doch verlockender. »Bevor ich mich entscheide, würde ich gerne über alles noch einmal nachdenken. Ich kann die Vollmacht ja jederzeit bei Ihnen abgeben.«
Herr Schröder nickte zustimmend. »Ja, aber ich möchte Sie nochmals auf die auflösende Bedingung im Testament in Form einer Befristung und die Nutzungsklausel aufmerksam machen. Verstreicht die Frist, geht der gesamte Besitz an die Nacherben, an die Familie der Mac Cumhaills. Sie verlieren dann das Haus und die Nutzungsrechte. Wenn Sie sich nicht durch uns oder eine andere Kanzlei vertreten lassen wollen, sollten Sie persönlich innerhalb der nächsten vier Wochen Ihren Anspruch in Irland geltend machen.«
»Eine Frist! Welche Frist?«, fragte Enya alarmiert. Da war wohl eine Menge, was Sie nicht verstanden hatte.
Der Anwalt beugte sich vor und reichte Enya die Übersetzung. »Bitte lesen Sie selbst und sagen mir dann, ob Sie den Sachverhalt mit den auflösenden Bedingungen verstehen. Bitte hier!« Er deutete auf einen Abschnitt im Text. Enya nahm das Schriftstück entgegen und begann sorgfältig den betreffenden Abschnitt zu studieren. Auch wenn der Text verschnörkelt anmutete und die Übersetzung vielleicht nicht ganz dem Original entsprach, es war eindeutig! Wenn sie das Anwesen in Irland erben wollte, dann musste sie sich schnell entscheiden. Und sie musste sich entscheiden für immer in Irland zu leben! Enya schaute gedankenverloren auf das Papier in ihren Händen. Wie zu sich selbst murmelte sie: »Aber meine Arbeit? Meine Wohnung in Langenhorn? Ich kann doch nicht einfach alles aufgeben?« Enya sah den Anwalt ratlos an. »Ich war noch nie in Irland. Wie soll ich überhaupt wissen, ob es mir dort gefällt? Mein ganzes Leben würde sich mit einmal auf den Kopf stellen!« Nein, das konnte man von niemandem erwarten.
»Die Bedingungen sind in der Tat ungewöhnlich. Ich habe das Testament bereits unserer Rechtsabteilung zur Prüfung vorgelegt. Unsere Spezialisten sind sich nicht einig, ob die Klausel vor einem deutschen Gericht erfolgreich angefochten werden kann. Die Kanzlei in Irland hat die Rechtmäßigkeit der Klausel allerdings schon bestätigt. Ein Erfolg in der Sache steht zu bezweifeln.«
Plötzlich meinte der Anwalt aufgeräumt: »Wissen Sie was, Frau O’Bryan, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich sagte Ihnen ja schon, dass ich am Mittwoch nach Irland fliege. Was halten Sie davon, wenn Sie mich bis Dublin begleiten?«
Enya sah ihn skeptisch an. »Ich weiß nicht recht. Ich müsste Urlaub nehmen. Vielleicht ist der Flieger auch schon ausgebucht. Was würde mich das denn kosten?«
»Der Hinflug würde Sie nichts kosten.« Erklärend fügte er hinzu: »Normalerweise fliege ich in Begleitung nach Dublin. Meine Assistentin hat sich gestern leider krankgemeldet. Ich kann das Ticket aber stornieren und ein neues für Sie besorgen.« Aufmunternd fügte er hinzu: »Nehmen sie sich die Zeit, fliegen Sie nach Irland. Schauen Sie sich das Anwesen in Clarecastle erst einmal an und entscheiden dann alles weitere. Ich bin bis Mitte Mai in Dublin und kann Sie, wenn nötig, jederzeit unterstützen.«
Enya war hin- und hergerissen. »Danke, das ist ein großzügiges Angebot. Aber bitte haben Sie Verständnis dafür, wenn ich nicht gleich zusage. Es gibt noch so viel zu bedenken.«
»Natürlich. Nutzen Sie das Wochenende, um in Ruhe über alles nachzudenken. Es reicht, wenn Sie mir am Montag Ihre Entscheidung mitteilen. Meine Sekretärin kann Ihnen dann auch bei der Organisation ihrer Weiterreise nach Clarecastle behilflich sein.« Der Anwalt erhob sich, umrundete den Schreibtisch und streckte Enya seine Hand entgegen. »Meine Sekretärin am Empfang wird Ihnen noch eine Kopie des Testaments ihres Großvaters aushändigen. Ich erwarte dann am Montag Ihren Anruf. Auf Wiedersehen.«
Damit war Enya bis auf Weiteres entlassen.
*
Sie saß nun schon eine ganze Weile unbeweglich hinter dem Steuer ihres Autos und starrte ratlos auf die Motorhaube. Ihre Gedanken purzelten nur so durcheinander. Sollte sie jetzt noch ihren Ausflug ins Alte Land starten? Auf jeden Fall musste sie erst mit ihrer Mutter telefonieren. Vielleicht sollte sie auch gleich zurück zur Fakultät fahren, um das mit dem Urlaub zu klären. Nein, das hatte bis Montag Zeit. Vorher sollte sie besser das Testament noch einmal in Ruhe lesen.
Tief Luft holen und schön eins nach dem anderen! Enya kramte in ihrer Handtasche nach dem Handy und wählte die Nummer ihrer Mutter. Sie wollte schon auflegen, als die Stimme ihrer Mutter erklang.
»Hallo, meine Kleine. Ich dachte, wir wollten erst wieder am Sonntag miteinander telefonieren? Ich bin doch erst zwei Tage fort, vermisst du mich etwa schon?«
»Mami, ich hab‘ ein Haus in Irland geerbt«, platzte sie heraus. Hastig fuhr sie fort. »Ich komme gerade vom Anwalt. Jetzt muss ich mich entscheiden, ob ich für immer nach Clarecastle ziehe.«
»Was redest du da für einen Unsinn?, stoppte ihre Mutter abrupt ihren Redeschwall. »Du hast doch nicht etwa schon am frühen Morgen Alkohol getrunken? Du weißt, du verträgst nichts.«
»Entschuldige, Mami, aber ich bin so schrecklich konfus.« Enya versuchte, sich zu sammeln.
»Was ist denn passiert, meine Kleine? Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte ihre Mutter besorgt.
»Ja ja, mache dir bitte keine Sorgen. Es geht mir gut. Ich habe heute etwas erfahren, das mich sehr äh ..., beschäftigt.«
In der nächsten halben Stunde berichtete Enya ihrer Mutter ausführlich über das Gespräch mit dem Anwalt, über den Tod des Onkels und von Cedric Finn O’Bryans seltsamem Testament.
*
Enya biss herzhaft in ihren noch warmen Croissant und kaute genüsslich. Nach dem Gespräch mit ihrer Mutter hatte sie plötzlich Lust auf eine Tasse Kaffee verspürt. Kurz entschlossen hatte sie den Wagen auf dem Parkplatz der Kanzlei stehengelassen und sich ganz in der Nähe in ein kleines Café gesetzt.
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