Ja, warum eigentlich nicht!? Sie schob den Rest ihres Marmeladenbrotes in den Mund, stand kauend auf und verschwand im Badezimmer.
*
Eine Stunde später erreichte sie die Räume der Fakultät an der Edmund-Siemers-Allee. Gleich nach dem Studium hatte Enya hier begonnen zu arbeiten. Sie schätzte ihre Arbeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Hamburgische Geschichte sehr. Zwar hatte sie nur ein winziges Büro im dritten Stock des imposanten Gebäudekomplexes aus Backstein, aber dafür musste sie sich den Raum mit keinem ihrer Kollegen teilen.
Eilig sprang sie die Treppen hinauf bis in den zweiten Stock. Zuerst wollte sie bei Ingrid vorbeischauen und ihren Urlaubsantrag stellen. Anschließend konnte sie in ihrem Büro noch schnell die Post kontrollieren. Vielleicht gab es ja doch etwas Dringendes, das nicht bis Montag oder Dienstag warten konnte. Ingrid würde überrascht sein, von ihrem spontanen Entschluss zu hören. Die junge Frau aus dem Sekretariat warf Enya immer einen Mangel an Spontanität vor und spöttelte gerne über ihre peniblen Pläne. Seit einer gemeinsamen Weihnachtsfeier vor zwei Jahren war sie mit Ingrid befreundet. Damals hatte Enya die jüngere Frau aus den Armen eines alkoholisierten und enthusiastischen Kollegen befreit. Beim Gedanken daran musste sie noch immer schmunzeln.
Sie hatte die Bürotür erreicht, klopfte und öffnete. Ingrid saß mit Kopfhörern über den Ohren vor dem Bildschirm und ließ die Finger nur so über die Tasten fliegen.
»Guten Morgen, Ingrid«, sagte Enya sehr laut und noch etwas außer Atmen von ihrem Treppensprint. »Ich wollte nur kurz vorbeischauen, einen Urlaubsantrag stellen und dir ein schönes Wochenende wünschen.«
»Urlaubsantrag? Hab ich da richtig gehört?« Ingrid grinste sie an, zog sich die Kopfhörer von den Ohren und legte sie beiseite. »Du und Urlaub?« Plötzlich erstarb ihr breites Lächeln. »Es ist doch nichts mit deiner Mutter in Spanien passiert?«
»Nein, Nein, keine Sorge. Alles gut«, beruhigte sie Enya sofort. »Ich hab mich heute Morgen ganz spontan dazu entschlossen, eine Stippvisite ins Alte Land zu unternehmen. Die Kirschblüte hat vielleicht schon begonnen. Wenn mir irgendwo eine kleine gemütliche Pension besonders gut gefällt, möchte ich sogar für ein oder zwei Nächte bleiben. Die frische Luft wird mir bestimmt guttun. Mal sehen, was kommt.«
»Na, dann unterschreibe mal deinen Antrag. Hier, bitte!« Ingrid zog gleichzeitig den kleinen blauen Formularblock für Urlaubsanträge und einen Kugelschreiber aus einer Schublade ihres Schreibtisches und legte beides vor Enya auf den Tisch.
»Ich freue mich für dich, Eni. Schön, dass Peter endlich mal Zeit für dich findet. Ich drücke euch die Daumen, dass das Wetter hält.«
Enya senkte den Kopf über das Formular und schrieb. »Ich fahre alleine«, erwiderte sie knapp. Als sie wieder aufblickte, sah sie einen Anflug von Verblüffung und Sorge über Ingrids Gesicht huschen.
Die junge Frau fing sich schnell wieder und meinte lächelnd: »Nun, schließlich bist du erwachsen und kannst dich auch mal ohne Peter amüsieren! Ich wünsche dir eine besonders schöne Zeit.«
»Danke, werde ich haben. Ich wünsche dir auch ein schönes Wochenende.« Enya war dankbar dafür, dass Ingrid so taktvoll war und keine weiteren Fragen über Peters Verbleib stellte. Enya reichte das Formular und den Kugelschreiber zurück. Als sie sich gerade zum Gehen umwenden wollte, hielt Ingrid sie noch einmal auf.
»Hey Eni, das hätte ich fast vergessen bei all dem Gerede von deinen überraschenden Urlaubsplänen!« Ingrid öffnete eine andere Schublade, holte eine kleine graue Pappkarte hervor und streckte sie Enya entgegen. »Nachdem du gestern so früh gegangen bist, kam ein Herr im eleganten Anzug vorbei und fragte nach dir. Sein Name steht da oben irgendwo auf der Visitenkarte. Ein gewisser Herr Schröder.«
Enya stutzte, nahm die silbergraue Visitenkarte entgegen und betrachtete sie unschlüssig. Auf der Karte standen, in großen Goldlettern geprägt, die Namen Schröder & Kleinschmidt. Darunter, etwas kleiner und in blauer Farbe, war Anwaltskanzlei zu lesen. Dann folgten die üblichen Adressdaten und Telefonnummern. Fragend sah sie Ingrid an. »Hat er gesagt, warum er mich sprechen wollte?«
»Nein, hat er leider nicht«, meinte Ingrid bedauernd. »Ich hab ihn natürlich nach seinen Gründen gefragt, aber er wollte ausschließlich mit dir sprechen. Es sei persönlich, meinte er. Und …«, fügte sie hinzu, »er betonte mehrmals, es sei sehr wichtig für dich. Du solltest bitte bald Kontakt mit der Kanzlei aufnehmen.«
Enya war verblüfft und ein wenig ratlos. Sie schüttelte den Kopf und sah fragend zu Ingrid herüber. »Ich habe noch nie von einer Kanzlei Schröder & Kleinschmidt gehört. Ich weiß wirklich nicht, was die von mir wollen.«
»Ich hab die sofort gegoogelt, als er weg war. Die Kanzlei liegt in diesem schicken Bürogebäudekomplex, direkt am Alsterufer.« Ingrid war offensichtlich mächtig beeindruckt. »Du solltest gleich anrufen, dann erfährst du bestimmt Näheres. Vielleicht ist es ja wirklich wichtig.«
»Mal sehen«, meinte Enya ausweichend. »Ich gehe dann mal und werfe noch kurz einen Blick in mein Büro, nachsehen, ob dringende Post da ist. Also bis Dienstag, tschüss, Ingrid!
»Ja, dann bis nächste Woche. Tschüss, Eni!« Ingrid setzte ihre Kopfhörer auf und ließ die Finger wieder über die Tasten fliegen
Zögerlich stieg Enya die breite Treppe hinauf zu ihrem Büro, das ein Stockwerk höher lag. Auf dem Absatz blieb sie stehen. Eine Weile betrachtete sie ratlos die Visitenkarte, die sie immer noch in der Hand hielt. Dann betrat sie ihr Büro. Ohne die Windjacke auszuziehen oder die Tasche von der Schulter zu nehmen, setzte sie sich auf den Stuhl hinter ihrem Schreibtisch. Die Visitenkarte legte sie achtlos vor sich auf die Schreibunterlage, griff nach den Papieren im Posteingangsfach und studierte sie oberflächlich. Nichts Wichtiges, befand sie, und legte den Papierstapel zurück ins Fach.
Als sie schon im Begriff war aufzustehen und zu gehen, fiel ihr Blick abermals auf die Visitenkarte. Sie stockte kurz und schaute dann auf ihre Armbanduhr. Es war ja grade mal 9:00 Uhr. Noch ausreichend Zeit für einen Anruf in der Kanzlei. Dann konnte sie beruhigt ins Wochenende starten und brauchte nicht länger darüber zu spekulieren, was die Herren Schröder & Kleinschmidt eigentlich von ihr wollten. Kurzentschlossen griff sie zum Telefonhörer und wählte die Nummer auf der Visitenkarte. Es dauerte eine Weile, bis jemand am anderen Ende das Gespräch aufnahm. Enya war schon kurz davor aufzulegen, als plötzlich eine weibliche Stimme flötete:
»Guten Morgen, Kanzlei Jochen Schröder & Sven Kleinschmidt. Sie sind mit dem Vorzimmer verbunden. Mein Name ist Chantal Bauer. Was kann ich für Sie tun?«
Enya räusperte sich kurz: »Guten Morgen, mein Name ist Enya O’Bryan. Ein Herr Schröder hat gestern vergebens nach mir ...«. Enya wurde flott unterbrochen.
»Guten Morgen, Frau O’Bryan. Ja, ich bin über die Vorgänge informiert. Einen Augenblick, bleiben Sie bitte am Apparat. Ich werde mich erkundigen, ob Herr Schröder Zeit für ein Gespräch hat.« Die Stimme verstummte, stattdessen erklang jetzt eine Pausenmusik.
Trotz der einlullenden Melodie stieg langsam Unruhe in Enya hoch. Von welchem Vorgang sprach die Frau da wohl? Was in aller Welt konnte sie damit nur gemeint haben? Als sich schließlich am anderen Ende der Leitung die Frau wieder meldete, schrak Enya förmlich zusammen.
»Herr Schröder hat jetzt Zeit für Sie, Frau O’Bryan. Ich werde Sie zu ihm durchstellen. Auf Wiederhören.«
»Auf Wiederhören und danke«, erwiderte Enya hastig, aber das hörte die Frau schon nicht mehr. Sekunden später erklang dafür die freundliche Stimme eines Mannes.
Читать дальше