»Guten Morgen, Frau O’Bryan. Sie sprechen mit Jochen Schröder. Gut, dass Sie anrufen. Wir möchten Sie gerne zu einem Gespräch in die Kanzlei einladen. Wann können Sie uns aufsuchen? Einen Augenblick, bitte«, er unterbrach sich selbst. »Lassen Sie mich bitte kurz in meinem Terminkalender nachsehen.« Enya hörte wie das Telefon beiseitegelegt wurde und Papier raschelte. Gerade wollte sie ihn noch fragen, ob sie auch die O’Bryan sei, die er sprechen wollte, da war er wieder am Apparat. »Am Montag um 11:15 Uhr habe ich noch einen Termin frei. Ginge das bei ihnen?«
»Eigentlich wollte ich ein paar Tage Urlaub machen«, meinte Enya ausweichend. »Vor Mittwoch kann ich nicht und am Vormittag geht’s schon gleich gar nicht bei mir. Ich bin berufstätig.
»Das ist bedauerlich. Am Mittwoch fliege ich in einer wichtigen Angelegenheit zurück nach Irland und bleibe dort für mindestens drei Wochen.«
Erwähnte er da etwa »Irland«? Also, sie sollte auf ihren kurzen und wohl verdienten Urlaub verzichten, während der Herr sich in Irland vergnügte. Ausgerechnet in ihrem Irland!
Enya unterbrach ihn schroff: »Sind Sie sich überhaupt sicher, dass Sie mich, Enya O’Bryan, sprechen möchten? Können Sie mir nicht am Telefon sagen, worum es sich handelt? Ich weiß ja noch nicht einmal, worum es eigentlich geht!«
»Sie sind doch Enya O’Bryan, geboren am 12.09.1975 in Hamburg?«, fragte er unvermittelt.
Sie antwortete zögerlich: »Jaa?! Das stimmt. Aber woher haben Sie die Informationen?«
Statt ihre Frage zu beantworten, erklärte er: »Es ist notwendig, dass ich Sie persönlich spreche. Leider dauerte es eine Weile, bis wir sie ausfindig machen konnten.«
Was meinte er denn damit, mich ausfindig machen, fragte sich Enya im Stillen verwundert. Ich bin doch nicht untergetaucht!
Er sprach weiter. »Ich denke, die Angelegenheit ist von einiger Bedeutung für Sie. Ich bin gehalten, Sie ihnen nur persönlich, Auge in Auge, darzulegen.« Er fügte hinzu: »Und nach Prüfung Ihrer Identität. Dazu müssten Sie bitte ihre Geburtsurkunde oder zumindest Ihren Ausweis vorlegen.«
»Na gut«, räumte Enya ein. »Dann lassen Sie uns einen Termin für Anfang Mai vereinbaren. Zur Not geht es auch vormittags bei mir.«
»Wie ich schon sagte, Frau O’Bryan, wir haben einige Zeit gebraucht, um Sie zu finden. Nun ist es unbedingt erforderlich, Sie so bald als möglich zu sprechen.«
Bevor Enya realisieren konnte, dass ihr Kurztrip ins Wasser fiel, setzte er erneut zu sprechen an.
»Darf ich fragen, ob sie noch in Hamburg sind, Frau O’Bryan?
»Ja, im Moment bin ich in meinem Büro in der Fakultät an der Edmund-Siemers-Allee.« Hastig fügte sie hinzu: »Ich will aber gleich wieder gehn!«
»Ich möchte Ihnen gerne eine Alternative vorschlagen. Unsere Büros liegen nur wenige Minuten von der Fakultät entfernt.« Er schien kurz zu überlegen. »Bitte kommen Sie doch gleich zu mir in die Kanzlei. Ich kann meinen nächsten Termin verschieben. Die Klärung der Angelegenheit wird nicht mehr als eine Stunde in Anspruch nehmen.« Er ergänzte: »Wenn Sie mit dem Auto kommen, unsere Parkplätze liegen auf der Rückseite des Gebäudes.« Als Enya zögerte, hakte er nach. »Darf ich Sie dann in einer viertel Stunde bei mir im Büro erwarten, Frau O’Bryan?«
Enya holte tief Luft und fügte sich in ihrem Schicksal. »Na gut, in Ordnung. Ich bin dann in einer viertel Stunde bei Ihnen.«
»Sehr gut. Dann verabschiede ich mich jetzt. Auf Wieder-hören.«
»Auf Wiederhören.« Das Gespräch war beendet.
Statt aufzustehen und zügig in Richtung Kanzlei aufzubrechen, saß sie einfach nur da. Warum machte der Anwalt bloß so eine Geheimniskrämerei aus der Sache? Das alles war ziemlich mysteriös. Schließlich raffte Enya sich auf, warf die Visitenkarte achtlos in ihre Umhängetasche und verließ eilig das Büro. Wenn sie wissen wollte, was los war, blieb ihr nichts anderes übrig, als in die Kanzlei zu gehen. Ihren Ausweis hatte sie ja immer bei sich.
***
Mit dem Auto war es wirklich nur ein Katzensprung bis zur Anwaltskanzlei. Enya fand gleich einen Parkplatz im Hof und ging nun auf das Gebäude zu. Ingrid hatte recht, ein ziemlich schicker Laden. Dafür mussten die Klienten der Herren „Schröder & Kleinschmidt“ sicherlich auch den doppelten Gebührensatz hinblättern, dachte sie spöttisch.
Am Empfang begrüßte Enya eine attraktive Frau in einem eleganten dunkelblauen Kostüm. Nicht ohne Neid registrierte sie die sorgsam frisierten langen blonden Haare der jungen Frau. Unwillkürlich dachte sie an Peters Assistentin und daran, dass wohl alle Männer gerne blonde Assistentinnen beschäftigten. Mit ihr musste sie auch vorhin telefoniert haben, sie erkannte die flötende Stimme wieder. Mit einem professionellen Lächeln auf den Lippen bugsierte Chantal sie in den Wartebereich der Kanzlei und bat Enya um einen kleinen Augenblick Geduld. Herr Schröder würde bestimmt gleich für sie Zeit haben. Während Enya wartete, kopierte die junge Frau ihren Ausweis.
Wenig später saß Enya dann in einem bequemen Ledersessel, in dem sie fast versank, und lauschte gespannt ihrem Gegen-über. Ein kolossaler Schreibtisch aus der Gründerzeit sorgte für einen diskreten Abstand zwischen ihr und dem Anwalt. Sie musterte beiläufig den, auch für hanseatische Verhältnisse, ausgesprochen gediegenen Raum. Nach einer höflichen Begrüßung und seinem Dank für ihr promptes Erscheinen kam er sogleich auf den Punkt.
»Nun, Frau O’Bryan, es gibt Umstände, von denen Sie Kenntnis haben sollten.« Er machte eine bedeutsame Pause. »Wir, die Kanzlei Schröder & Kleinschmidt, werden in der Hauptsache in Erbschaftsangelegenheiten konsultiert. Wobei die Ermittlung der Erben im In- und Ausland oft den Hauptanteil unserer Tätigkeit ausmacht. Vor einem halben Jahr wurde die Kanzlei unserer Partner in Dublin als Rechtsnachfolger beauftragt, ein Testament abzuwickeln und zu vollstrecken. Im Laufe der Recherchen wurde es notwendig, auch in Deutschland nach potenziellen Erben zu suchen. Unsere Kanzlei übernahm diese Aufgabe.« Er schien zu überlegen. »Aufgrund, äh …, nennen wir es mal erschwerender Begleitumstände, hat sich die Abwicklung des Erbfalles allerdings als schwierig erwiesen.« Er sah sie eindrücklich an. »Sie verstehen nun sicher, warum ich Sie bat, unsere Kanzlei aufzusuchen?«
Enya runzelte die Stirn. Nein, sie verstand nichts. Rein gar nichts! Um welche Erbschaft sollte es sich denn handeln? Das Erbe ihrer Großmutter Alma war doch längst aufgeteilt. Ihre Mutter und sie hatten das einvernehmlich geregelt. Langsam wurde sie unruhig. »Äh …, nein nicht wirklich. Was bitte hat das Ganze mit mir zu tun, Herr Schröder?«
Seine Miene wechselte über zu einem feierlichen Ernst. »Nun, ich habe Sie zu uns gebeten, um Sie vom Inhalt eines Testamentes in Kenntnis zu setzen und um den letzten Willen des Erblassers zu vollstrecken.« Der Anwalt machte wieder eine bedeutsame Pause. »Frau O’Bryan, ich darf Ihnen mitteilen, dass Ihr Großvater Cedric O’Bryan Ihnen ein beachtliches Erbe hinterlassen hat.«
Enya konnte den Anwalt nur verblüfft anstarren. Ihr Großvater? Weder ihre Mutter noch ihr Vater hatten ihn je erwähnt. Es musste sich um eine Verwechslung handeln. Ja, so war es! Eine Verwechslung. Das hatte sie ja von Anfang an vermutet. Enya entspannte sich. »Herr Schröder, es tut mir leid, aber Sie müssen sich irren.«
Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Frau O’Bryan, seien Sie versichert, es handelt sich keinesfalls um einen Irrtum.«
»In meiner Familie war aber nie die Rede von einem Großvater namens Cedric O’Bryan. Da muss eine Verwechslung vorliegen«, gab Enya schon etwas verunsicherter zu bedenken.
Herr Schröder lächelte versöhnlich. »Ihr Vater hatte sicherlich gute Gründe, warum er nicht mit Ihnen über Ihren Großvater gesprochen hat.«
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