Obwohl die Gestalt der Lorelumpe sich bei den Touristen, die die Metropole besuchten, immer noch allgemeiner Beliebtheit erfreute, jedes Jahr besuchten tausende von Menschen das kupferne Denkmal der Nymphe am Ufer des Weent, handelte es sich bei dem Lokal am Hafen keineswegs um ein Etablissement, welches aufzusuchen, Provinzlern anzuraten gewesen wäre. Auch Nicht von Ungefähr wunderte sich über die Wahl der Kaschemme als Treffpunkt, entweder wusste Omellettin nicht was er tat, oder es handelte sich bei dem Mann um ein besonders kühnes Exemplar seiner Gattung.
Der Detektiv hatte sich eigens zu diesem Anlass in einen etwas fadenscheinigen, alten Mantel gehüllt, der ihm eigentlich für die Jahreszeit als zu dick erschien, doch hatte es sich, als die Sonne im Westen untergegangen war, so weit abgekühlt, dass er froh war, sich für diese Art Tarnung entschieden zu haben. Das Lokal war um fünf Minuten vor Acht schon gut besetzt, nur noch ein winziges Tischchen in der Nähe des Hinterausgangs, wo es zu den Latrinen ging, war frei und Nicht ließ sich dort nieder, nachdem er sich einen Humpen Spalterbräu, ein paar Münzen auf die Theke werfend, geholt hatte. Niemand beachtete ihn, so wie auch er so tat, als würde er sich für seine Umgebung in keiner Weise interessieren.
Kaum hatte er sich gesetzt, kam auch schon ein zerlumpter Kerl leicht taumelnd, unsicheren Schrittes auf ihn zu. Der Kerl hatte den gebeutelten Hut, in dessen Band eine Taubenfeder steckte, tief ins Gesicht gezogen und mit einiger Verwunderung erkannte Nicht schließlich in dem Subjekt den Grafen Omellettin.
„Graf, um Himmels Willen!“, entfuhr es dem Detektiv, woraufhin er sich selbst mit der Rechten auf den Mund schlug.
„Ja, ich bin es, mein lieber von Ungefähr! Aber still!“ Bei diesen Worten hatte Omellettin sein Bierglas erhoben und stieß mit dem Humpen an, der vor Nichts Nase stand. Der Detektiv war sprachlos, dies hätte er dem Grafen nun keineswegs zugetraut, man sollte die Leute einfach nicht unterschätzen. Dann jedoch musste Nicht seine Meinung schon wieder ändern, denn obwohl Omellettins Tarnung wirklich bewunderungswürdig war, brachte er es nicht fertig, seine Nervosität und Unsicherheit in diesem Lokal voller Halunken und Halsabschneider gänzlich abzulegen.
„Gebt mir die Anschrift des Kerls und Eure beglaubigte Aussage, Freiherr! Bringen wir es hinter uns! Mir ist nicht ganz geheuer!“ Bei diesen hektisch geflüsterten Worten sah er sich mehrmals nach allen Seiten um, ein Verhalten, das unbedingt Aufsehen erregen würde, ginge das so weiter.
„Ruhig Graf, ganz locker!“, meinte Nicht von Ungefähr und legte in beruhigender Absicht dem Mann die Hand auf den Unterarm, der sofort zurückzuckte, noch einmal in seine Jackentasche griff und Nicht unter dem Tisch einen Umschlag reichte.
„Mit Spesen waren es doch hundertfünfzig Dukaten, nicht wahr?“, flüsterte Omellettin.
„Genau, Graf!“, meinte der Detektiv und ließ das Kuvert in der Manteltasche verschwinden. Die Einführung dieses Papiergeldes war eine großartige Idee unseres jugendlichen Finanzministers, dachte Nicht. Schrecklich, wenn man wie früher ständig, wie es die meisten, selbst die Einwohner hier in der Metropole, immer noch taten, Geldbeutel mit schweren Münzen mit sich herumschleppen müsste.
„Ich gehe dann lieber wieder“, sagte Graf Omellettin. "Ich habe dieses konspirative Treffen für eine großartige Idee gehalten, habe es mir aber weniger abenteuerlich vorgestellt, wie ich gestehen muß.“ Bei diesen Worten war Omellettin aufgestanden, stracks durch das Lokal geeilt und gleich darauf verschwunden. ‚Seltsamer Kerl‘, dachte Nicht. 'Er hätte doch einfach in mein Büro kommen können.‘
Wirklich hatte der Graf Omellettin die Stärke seines Nervenkostüms arg überschätzt. Er war einer dieser Abonnenten der Serien von Schundliteratur, wie sie auch in den Wochenendausgaben des Weentbehler Anzeigers immer wieder abgedruckt werden, und tatsächlich hatte er sich in den Gedanken verliebt, sich einmal tief hinab in die Gosse zu begeben, wie es in diesen Heftchen in romantischer Verklärung immer so schön geschildert wurde. Die Wirklichkeit jedoch hatte alle Erwartungen des Grafen übertroffen.
„Hihihi“, Nicht musste leise in sich hineinkichern. ‚Welch ein Weichei‘, dachte er noch und befand, dass dies eine äußerst treffende Bezeichnung für den Grafen Omellettin sei.
Niemand kümmerte sich um Nicht, als er sich an diesem weit vom Geschehen entfernten Platz die Muse nahm, sein Bier in Ruhe auszutrinken und dabei die Leute zu beobachten. Hier war aber auch ein schönes Lumpengesindel zusammengekommen, dies würden zumindest die meisten seiner, Nicht von Ungefährs Klasse wohl denken, wenn es sie in dieses Lokal verschlagen hätte. Wirklich machten die allermeisten Männer und die wenigen Frauen, die sich um die Theke vorne drängten, nicht gerade einen besonders wohlanständigen Eindruck. Anscheinend hatten einige schon zu dieser recht frühen abendlichen Stunde dem Schnaps etwas zu ausgiebig zugesprochen und taten dies immer noch. Nicht hatte das Gefühl, dass es von Minute zu Minute lauter wurde. Runden wurden bestellt, die ersten Sauflieder zaghaft angestimmt, als jetzt ein Akkordeonspieler von der Straße hereinkam, der anscheinend sein Tagwerk als blinder Bettler in einem anderen Teil der Metropole beendet hatte und nun die getönte Brille abnahm und diejenigen Gassenhauer zu spielen begann, die der Zuhörerschaft auf der vornehmen Einkaufsmeile wegen ihrer anrüchigen Texte eher weniger zuzumuten gewesen waren. Bald wurde eifrig mitgegrölt, die Gesichter der Kerle wurden von Minute zu Minute röter, hatte Nicht den Eindruck, entweder sollten sie zwischendurch das Atmen nicht vergessen, oder es lag am schwarzgebrannten Wacholder, für welchen das Lokal in Trinkerkreisen berühmt-berüchtigt war. Das Zeug stand in dem Ruf blind zu machen, allerdings war es dem einzigen Blinden im Raum, nachdem er die dunkle Brille abgenommen hatte, immerhin möglich, sich zwischenzeitlich problemlos einen dicken Stumpen anzustecken.
Nicht von Ungefähr wollte gerade gehen, da öffnete sich erneut die Tür des Gasthauses und herein spazierte an der brüllenden Horde vorbei ein Mann, dessen Aufmachung in keiner Weise hier hineinpassen wollte. Wenn dem gutgekleideten Herrn jedoch misstrauische Blicke begegneten, so schien er von der Mehrheit der Gäste gleich als bekanntes Gesicht eingeordnet zu werden und man schenkte dem Neuankömmling keinerlei Beachtung mehr.
‚Interessant‘, dachte Nicht von Ungefähr, und setzte sich gleich wieder, obwohl er schon nach seinem Hut greifen und aufstehen hatte wollen. Kurz nachdem sich der Gentleman in einer Nische unweit des Tisches des Detektivs niedergelassen hatte, kam alsbald einer der Zecher und setzte sich dem Mann gegenüber. Es handelte sich um einen riesigen Kerl, an der dunklen Hautfarbe glaubte Nicht gleich den Seemann zu erkennen. Trotz des rötlich, braunen Teints des Küstenbewohners waren ihm doch viel eher die groben, bäuerlichen Züge eines Mannes aus den Nebelbergen zu eigen. Allerdings war dieses Gesicht durchzogen von einer rot hervorleuchtenden Narbe, die vom rechten Auge hinab bis auf sein ausgeprägtes Kinn verlief und in diesem Verlauf den breiten Mund des Kerls auf absonderliche Weise zu spalten schien. Auch wenn er lächelte, blieb der rechte Mundwinkel immer an seinem Ort, was seinem Gesicht etwas Janusköpfiges verlieh, wie Nicht dachte.
Dann fiel dem Detektiv die verblichene Jacke auf, die der Mann am Leibe trug. Hierbei handelte es sich bei näherem Hinsehen um eine uralte Kapitänsuniform, die Streifen auf den fadenscheinigen Epauletten waren zwar kaum mehr zu erkennen, doch die goldenen Knöpfe besaßen immer noch einen gewissen Glanz, sonst hätte Nicht dieses Kleidungsstück, als das, was es war, niemals identifizieren können.
Читать дальше