Kaum hatte Nicht am nächsten Morgen sein Büro betreten, da stand auch schon die oberste Putzfrau des Kontinents vor seiner Tür. Marianne meinte, sie hätte sich heute eigens einen Tag freigenommen, um ihm in dieser Sache, wie sie den Fall der Entführung des Impresarios der Theatertruppe Karbunkelkraut nannte, zur Verfügung zu stehen. Selbstverständlich war es nichts anderes als brennende Neugierde, die sie zu so früher Stunde hergetrieben hatte.
Im Grunde jedoch war dies dem Detektiv aber auch wieder ganz recht. Er schickte Marianne hinaus nach Lachapelle und wies ihr die Adresse der von Fallerslebens an. Nicht wusste nicht, wie sie mit einer der Hausangestellten in Kontakt treten wollte, empfahl Marianne aber aufs Eindringlichste vorsichtig zu sein und nicht allzu unverblümt nachzuhaken, nach dem, was bei der Herrschaft so vor sich ginge. All dies hätte wohl eigentlich keinerlei Erwähnung bedurft. Ja, Marianne schien sogar ein klein wenig eingeschnappt zu sein, wegen der Warnungen des Detektivs in dieser Hinsicht.
„Ich bin ja wohl nicht blöd!“, hatte sie nur noch gesagt und sich alsbald auf ihrem Velociped auf den Weg gemacht. Es war eines dieser neueren Modelle, die der jugendliche Minister Osthoven konzipiert hatte, mit einer neuen Kettenübersetzung, drei Ritzeln und vor allen Dingen mit diesen wunderbar leichtlaufenden Kugellagern ausgerüstet, konnte man mit den Dingern eine enorme Geschwindigkeit erreichen, wie Nicht von Ungefähr feststellen konnte, als er nachdenklich aus dem Fenster blickend, Marianne unten in Windeseile entschwinden sah.
„Wahnsinn!“, murmelte er. Wenn man bedachte, wie diese Dinger noch vor wenigen Jahren ausgesehen hatten! Mit dem riesigen Vorderrad war es beinahe unmöglich gewesen, unbeschadet um eine enge Kurve zu fahren. Und nun? Allerdings handelte es sich bei dem Gefährt, das Marianne zu Testzwecken überlassen worden war, lediglich um einen sogenannten Prototypen. Der Reichsverweser war skeptisch, ob man ein solches Gefährt wirklich auf den Straßen der Hauptstadt zulassen sollte. Er hielt die Geschwindigkeit, die das Velociped erreichte, besonders wenn es in Weentbehl-Lachapelle einmal bergab ging, doch für gar zu halsbrecherisch. 'Vielleicht wäre es besser sich einen Helm der städtischen Garde aufzusetzen', dachte Nicht noch, als Marianne um die Ecke bog und beinahe mit einem riesigen Brauereigaul kollidierte, der gerade eine Lastkutsche, beladen mit mehreren Fässern hinter sich herziehend, aus der anderen Richtung angetrabt kam.
Währenddessen setzte sich Krautschuk mit dem Oberkapellmeister des ehemals kaiserlichen Orchesters auseinander. Krautschuk war zwar in der Lage, die Noten, die für die einzelnen Arien und Chorgesänge vorgesehen waren, halbwegs in Tonschrift zu übertragen, die ein rein aus Menschen bestehendes Orchester lesen können würde, benötigte jedoch unbedingt die Hilfe eines wirklichen Profis, der daraus eine Partitur schmieden sollte. Für das Libretto zeigte sich der Knirps ganz alleine verantwortlich, immerhin musste ja nur hie und da ein wenig an den Worten geknappst und alles in Reimform gezwängt werden.
Kapellmeister Arnoldo Bellemonti war eine echte Berühmtheit auf dem Kontinent. Einige Jahrzehnte nun schon leitete er das symphonische Orchester auf eine Art und Weise, die nicht immer von seinen Untergebenen als angenehm empfunden wurde. Immer wieder war es zu lebhaften Diskussionen gekommen über eine Neubesetzung dieses hohen Amtes, auch da des Öfteren die Besetzung des Orchesters wechselte. Manch einer der zartbesaiteten, hervorragend ausgebildeten Musikanten hatte schon das Handtuch geworfen, wenn er wieder und wieder Bellemontis Zetern, Klagen und dessen wüste Beschimpfungen eine Zeitlang über sich ergehen hatte lassen müssen. Lieber war man da an den Hof eines der unzähligen Fürstenhäuser gegangen, um dort selbst als Kapellmeister dieselben Unarten zu entwickeln, unter welchen man vormals gelitten hatte. Immerhin konnte man auf diese Art und Weise einen gehörigen Batzen Dukaten im Jahr einsäckeln, ganz im Gegenteil zu dem eher schmalen Gehalt, das man als einfacher Musikus im Orchester der Hauptstadt erhielt.
Insbesondere das Feuilleton des Weentbehler Anzeigers hatte immer wieder die Ernennung Bellemontis in Frage gestellt, man hätte es lieber gesehen, jemand anderen, insbesondere für die in höchstem Maße beliebten Opernaufführungen zu verpflichten, als den aus dem tiefen Süden des Kontinents stammenden Mann. Obwohl doch gerade diese seine Abstammung eigentlich für ihn als Kapellmeister sprechen sollte. Immerhin hat dieser Landstrich die allermeisten der Kompositeure hervorgebracht, die den Stil des Operngenres bis zum heutigen Tage prägen. Man denke nur an Giuseppe Verdani, Giulio Caccini oder Giacomo Periscopi! Namen, die doch jedes kleine Kind wohl immer noch kennt. Die Kritik an Arnoldo Bellemonti entsprang der Neigung der Musikredakteure, besonders jener vom konservativen Abendblatt und aus der Redaktion des Zeitenhobel, alles was der Mann auch unternahm für zu modern zu halten. Diese kritische Haltung Bellemonti gegenüber hatte nun keineswegs nur mit der Musik an sich zu tun, an der Virtuosität der Musikanten konnten die Verrisse der Aufführungen ebenfalls unmöglich liegen. Dennoch war den Schreiberlingen alles zu modern, mochte es sich um die Interpretation einer antiken Liebestragödie handeln oder auch um ein zum Schlachtengemälde aufgeblasenes, vaterländisches Rührstück. Entweder zuviel Pathos, dann wieder zuwenig. Den Streichern fehle der richtige Impuls, das Werk entsprechend zum Schwingen zu bringen; die Kostüme sahen aus, als ob sie vom Lumpensammler gestohlen waren; und das Bühnenbild war von einer derartigen Unkenntlichkeit, so dass man in dem finstren Tann, den es darstellen sollte, genauso gut einen Jahrmarkt unter einem sonnigen Frühjahrshimmel würde erkennen können. So ging das jahrein und jahraus!
Im Grunde hätte es an Oberbürgermeister Martensen gelegen, Bellemonti zu entlassen, doch der war im selben Alter wie der Hofkapellmeister und die beiden kamen seit Jahrzehnten hervorragend miteinander aus. Der Reichsverweser Puntigam mischte sich in diese Angelegenheit in keiner Weise ein, ihm war die ganze Sache im Grunde schnurzegal, wie er selbst sich ausgedrückt hätte. Außerdem hatte er für dies Gesinge so gar keine Ader. Puntigam bevorzugte die groben, volkstümlichen Gassenhauer, zu welchen man mit grabestiefer Stimme, auch nach drei vier Humpen Bier noch mitgrölen konnte.
Bellemonti also besah sich die Niederschrift der Melodien, die der Hurvenik Krautschuk angefertigt hatte, mit einem skeptischen Blick. Auf den Blättern schienen wesentlich mehr Fähnchen an den einzelnen Tönen angebracht zu sein als allgemein üblich. Doch ließ sich der von der Last der Jahre gebeugte Mann von solcherlei Kleinigkeiten keineswegs schrecken. Mit einer Auffassungsgabe, die man im Kopf des Alten kaum mehr vermutet hätte, nahm er in Windeseile alles in sich auf, holte eigenes Notenpapier hervor und begann unverzüglich die Partitur anzufertigen. Er hatte die Melodiebögen auf der Stelle im Kopf, die Krautschuk ihm mit seinem Gekrakel hatte aufzeigen wollen, so unglaublich dies auch klingen mochte. Nur hatte er erhebliche Probleme damit, alles so umzusetzen, dass auch ein gemeiner Musikant dies würde vom Blatt weg spielen können. Wenn Unsicherheiten auftauchten, fing Krautschuk an, die jeweilige Melodie dem Oberkapellmeister vorzusingen, und der schrieb dann sogleich weiter, so dass es nicht lange dauerte und die gesamte Partitur dieses neuen geradezu bahnbrechenden Werkes war fertiggeworden. Merkwürdigerweise musste sich Arnoldo Bellemonti nicht einmal beim Gesang des Hurveniks die Ohren zuhalten, dies musste wohl daran liegen, dass der Dirigent, ebenso wie der Hausmeister des Weentbehler Staatstheaters, seit langem schon stocktaub war. Möglicherweise handelt es sich hierbei um eine Art Berufskrankheit.
Читать дальше