Am Nachmittag schon kam Marianne zurück in Nicht von Ungefährs Büro. Gerade hatte sich der Detektiv niedergesetzt, um sich dem täglichen Ritual von Alkohol und Nikotinzufuhr zu widmen, das er für so unerlässlich hielt für das Handwerk, das er eigens für sich selbst kreiert hatte, da kam Marianne einfach ohne anzuklopfen hereingeschneit.
„Oh, Malzwhiskey!“, rief sie gleich darauf aus, als sie den käsigweißen Nicht in seinem Sessel sitzend, halb ohnmächtig vorfand. „Und Zigarren! Das ist jetzt genau das Richtige!“ Ohne überhaupt auf die Idee zu kommen, nachzufragen, steckte sie sich eine der Zigarren in den breiten Mund und fand auch rasch ein Glas, das sie bis zum Eichstrich einschenkte.
Nicht von Ungefähr betrachtete die oberste Putzfrau des Kontinents; ihm wurde beinahe noch einmal schwindlig, als er sie wie besessen an dem Stumpen ziehen sah, dessen glühendes Ende sich in Windeseile ihrem Mund zu nähern schien. Sie trug unter einem Strickwestchen ein beiges Kleid mit einer Art Muster, von dem Nicht nicht hätte sagen können, was es darstellte. Darunter lugte ein weißes Unterkleid hervor, welches jedoch zerrissen zu sein schien, und noch dazu mit schwarzen, schmierigen Flecken bedeckt war. Marianne, die seinen Blick bemerkt hatte, meinte nur: „Bin in der Kette hängengeblieben, da sollte er sich aber wirklich mal was überlegen, der Herr Minister!“
Nicht von Ungefähr schien kein Wort verstanden zu haben. Endlich hatte er sich wieder berappelt und erkundigte sich danach, ob es Marianne gelungen war, von einem oder einer der Hausangestellten, etwas über die Gepflogenheiten der von Fallerslebens herauszufinden.
„Tja“, begann die reichsverweserische Reinigungsfachkraft, „das war gar nicht so einfach, mein lieber Nicht. Aber ...“
„Na, dann rück schon mit der Sprache raus, Marianne!“ Diese Frau hatte eine Art am Leibe, die einen in den Wahnsinn treiben konnte, fiel Nicht wieder einmal auf. Kein Wunder, dass sie nie geheiratet hat, oder war sie etwa verwitwet und hatte womöglich schon mehrere Ehemänner in ein frühes Grab gebracht? Seltsamerweise wusste Nicht so gut wie nichts von Mariannes Privatleben. Selbst wenn sie sich im 'Tschooker‘ zusammen mit Humphrey und dem Uhrmachermeister Stundenruh auf eine Partie Rommee trafen, war die Rede bisher nie auf ihre Lebensumstände gekommen. 'Vielleicht war sie früher ja ein dufter Käfer gewesen, wie man in den anrüchigeren Etablissements wohl sagen dürfte?' Was im Übrigen ein vollendeter Blödsinn ist, so lyrisch drückt man sich dort nun wirklich nicht aus! 'Ob sie wohl etwas zu verbergen hatte?' All diese vollkommen nutzlosen Gedanken gingen dem Detektiv innerhalb von Millisekunden durch den hübschen Kopf.
„Na gut“, begann endlich Marianne und hielt ihm das leere Glas hin, welches Nicht nun zu einem Drittel füllen wollte, aber erst, nachdem es halbvoll war, erfolgte ein zufriedenes Nicken des grauen Lockenkopfes mit der Moppfrisur. „Ich war so um zehn Uhr endlich vor Ort, unterwegs war mir einmal die Kette vom Ritzel gerutscht, das System ist irgendwie doch noch nicht so ausgegoren, wie der Herr Minister meint. Aber ich hab‘ da schon eine Idee, es müßte reichen, wenn man mittels eines Langlochs, die Achse des Hinterrades ein kleines Stückchen weiter nach unten bringen könnte, dann ...“
„Marianne!“ Der Detektiv wurde nun langsam aber sicher etwas ungeduldig.
„Gut, schon gut! Ihr jungen Leute habt es aber auch immer eilig! Ich legte mich also hinter einer Hecke, allerdings stehenderweise, auf die Lauer und behielt eine geschlagene Stunde den Hintereingang des Fallerslebenschen Anwesens im Auge. Irgendwann kam ein Knabe heraus, der die Möpse ausführen sollte. Die haben sieben Stück von diesen kleinen, hässlichen Kläffern, kannst du dir das vorstellen? Na egal …, hättest du vielleicht noch einen von diesen Stumpen?“
Nicht von Ungefähr stand vom Stuhl hinter seinem Schreibtisch auf, reichte Marianne eines dieser Stinkestäbchen, gab ihr Feuer und lief hinüber zum Fenster, das auf den Hinterhof hinabblickte und riss es sperrangelweit auf; er hatte langsam das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen.
„Aber dann", fuhr Marianne endlich fort, "nochmal eine halbe Stunde später, verließ eine Frau in den besten Jahren im landläufigen Dienstbotenkostüm den Hintereingang und kam direkt auf mein Versteck zu. Ich trat hervor und tat so, als ob ich mir den Schnürsenkel binden müsste, dabei ließ ich meinen Schlüsselbund aufs Pflaster fallen, gerade als sie vorübergehen wollte. Daraufhin sprach sie mich direkt an, kein Wunder, an meinem Schlüsselbund befinden sich an die hundertfünfzig Schlüssel und Schlüsselchen. Der ehemals kaiserliche Palast ist nun einmal nicht das allerkleinste Wohngebäude der Stadt.“
Tja, viele, viele Schlüssel und viele, viele Schlösser, dachte Nicht von Ungefähr amüsiert, dennoch hatte er selbst vor etwa drei Monaten nächtens beinahe problemlos hinauf ins Amtszimmers des Reichsverwesers gelangen können.
„Jedenfalls musste ich mir, nachdem ich mich nach ihrer Herrschaft erkundigt hatte, ich täuschte eine geradezu unmäßige Neugierde vor, eine geschlagene halbe Stunde all den Klatsch und Tratsch anhören, den man genausogut auch im ‚Goldenen Blättchen‘ hätte lesen können. Wir haben schließlich eines der Kaffeehäuser in der Innenstadt aufgesucht, da Mathilde heute ihren freien Tag hatte.“
„Mathilde?“, fragte Nicht von Ungefähr, dessen Gedanken des Öfteren zum Abschweifen neigten.
„Na, das Dienstmädchen der Fallerslebens. Hörst du mir denn überhaupt zu?“
„Ja doch, Mathilde, klar!“, stammelte der Detektiv und bemühte sich dabei ein konzentriertes Gesicht zu machen.
Wirklich konnte sich Nicht von Ungefähr keinen rechten Reim auf die Informationen machen, mit denen Marianne nun aufwartete. Außerdem berichtete sie von all den Liebesaffären, die die unterschiedlichen Kinder der Familie unterhielten, auf eine Art und Weise, die ihre vorherige Behauptung, sich dieses nur mit Widerwillen angehört zu haben, ad absurdum führte. Mariannes Augen hatten begonnen seltsam zu strahlen, als sie erzählte, wie die arme Mathilde den Erstgeborenen des Grafen, Leonard, in flagranti mit einem jungen Mann im Bett erwischt hatte. All dies aber war Nicht von Ungefähr gänzlich egal. Seine Gedanken begannen schon wieder abzuschweifen; vom offenen Fenster her tönten die jauchzenden Ausrufe spielender Kinder herauf, bald würde es Zeit fürs Abendessen sein und dann aber ab in die Falle. Doch plötzlich meldeten seine Ohren ihm, dass sich irgendetwas im Tonfall von Marianne verändert hatte, und er horchte auf.
„...es war, als ob Geister mit den Ketten rasselten, mit denen sie noch hier auf unserem großen Pfannkuchen festgehalten werden, da sie sich sündig gemacht haben und ihnen nun das Himmelreich verwehrt bleiben würde!“ Die Putzkraft hatte diese Worte auf eine spöttische Art betont. Nicht vermutete in Marianne eine unbekehrbare Atheistin. „Und noch dazu hätten die Stimmen dieser Geister noch ein gequältes Stöhnen von sich gegeben.“
„In dem alten Lagerhaus?“, der Detektiv erinnerte sich, dass Marianne kurz zuvor solch ein Gebäude erwähnt hatte, dass weit außerhalb des Zentrums, am äußersten Rand Lachapelles, im Norden der Stadt also, lag. „Stöhnen und Kettenrasseln?“
„Ja doch, aber ich denke, die Gute hat sich das lediglich eingebildet, sie kommt mir vor, wie eine von denen, die wegen jedem Pipifax gleich zum Herrn Pfarrer rennen, um sich die Beichte abnehmen zu lassen. Am besten noch von so einem fetten, verfressenen Kerl, der sich am Inhalt des Klingelbeutels ausgiebig bedient!“
'Eindeutig eine handfeste Gottesleugnerin, unsere Marianne. Hoffentlich kam dies nicht einmal dem Erzbischof von Weentbehl-Lachapelle zu Ohren. Na ja, den Titel oberste Putzfrau des Kontinents hatte sich Marianne wohl selbst verliehen. Eine so wichtige, für die Regierungsgeschäfte des Herrn Reichverwesers unverzichtbare Person war sie nun auch wieder nicht,' dachte der Detektiv.
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