„Ich weiss, ich weiss, die inneren Werte! Pah!“, brachte Philipp mit unterdrückter Wut heraus. „Und wenn diese sogenannten inneren Werte nur in Form von ausgiebigen Flatulenzen ans Licht der Welt gelangen?!“
„Philipp, ich denke, du übertreibst wieder einmal maßlos!“
„Ach, Nicht“, meinte der Graf jetzt, „vielleicht übertreibe ich ja wirklich! Aber du weißt doch, dass ich viel eher den Tänzerinnen vom Ballett zugeneigt bin! Warum nur, warum nur, ist unsereiner nur darauf angewiesen, jemanden aus dem eigenen Stand zu ehelichen, kannst du mir das einmal verraten?! Ist ja wohl alles nur überkommene, blödsinnige Tradition!“
Da Nicht im Grunde der gleichen Meinung war, fiel es ihm schwer, dem Schulkameraden zu widersprechen, doch hatte er ebenso das Gefühl, der gute Philipp suhlte sich nicht eben ungern in seinem eigenen Elend.
„Wie oft bist du eigentlich der Contessa schon begegnet?“, fragte der Detektiv, der sich die Antwort auf diese Frage beinahe schon vorstellen konnte.
„Ach, zweimal, beim Rennen in Brisbane, und im Theater, bei einer der Aufführungen dieser winzigen Schauspieler, die auf der Bühne, ohne einen dieser kleinen Feldstecher an der Abendkasse zu erwerben, kaum zu erkennen sind.“
Wirklich fanden die billigen Ferngläser inzwischen rasenden Absatz. Karl Osthoven der Finanzminister des Reichs hatte eigens zierliche optische Hilfen entwickelt, mit welchen man das Geschehen auf der Bühne besser beobachten konnte. Osthoven war wirklich mit allen Wassern gewaschen, seit zwei Jahren Minister, gerade einmal Mitte Zwanzig und höchstwahrscheinlich schon Millionär, dachte Nicht von Ungefähr und konnte wieder einmal nicht umhin, diesen Emporkömmling klammheimlich zu bewundern.
„Hast du denn überhaupt mehr als zwei Worte mit ihr wechseln können?“, fragte Nicht.
„Wie mans nimmt, Floskeln halt, sie war immer in Begleitung ihrer Anstandsdame, ihrer Schwipptante Mechthild zu Guttenberg.“
„Na dann kannst du doch über ihren Charakter im Grunde gar nichts sagen!“
„Nein, nein, vielleicht tue ich ihr ja auch furchtbar unrecht. Aber ich fühle mich nun einmal echt beschissen!“
„Ach, wart‘s mal ab!“, meinte Nicht und kam nun endlich auf die Sache zu sprechen, wegen welcher er Philipp eigentlich gesucht hatte. Vielleicht würde ihn dies, zumindest eine Weile von seiner eigenen Misere ablenken. „Sag mal, Philipp, mal was ganz anderes, kennst du eigentlich jemanden von der MWGFDK?“
„Häh?!“, Philipp von Quandt hatte die Augen weit aufgerissen, so als könne er momentan nicht fassen, nach was sich Nicht erkundigte. „Was willst du denn von diesen Schwachköpfen, ich hätte nicht gedacht, dass du so tief sinken könntest, mein lieber Nicht?!“
Der Detektiv erklärte seinem Mitzögling nun, dass er lediglich einen Fall bearbeite und diese Organisation womöglich gewissermaßen eine Rolle in einer Sache spielen mochte, die nicht gerade legal war, konnte aber dem Freund lediglich entlocken, dass dieser nicht genau sagen könnte, wer genau hinter diesen Leuten steckte. Die Mitglieder des Oberhauses, die offiziell der KKP angehörten, würden wohl kaum, mit der Sprache herausrücken, wer dazugehörte. Immerhin war die MWGFDK schon durch das Beschmieren etlicher Häuserwände aufgefallen. Sogar vor dem ehemals kaiserlichen Palast, hatten die Unholde nicht Halt gemacht. Eines Morgens, vor drei Monaten etwa, prangte eben dort tatsächlich die Parole ‚Wolle unsern Kaiser Alpfons widderhamm‘, direkt auf dem großen Tor, das den Haupteingang des Schlosses darstellte. Trotz, oder gerade wegen dieser fehlerhaften Schreibweise soll der Herr Reichsverweser ernsthaft aufgebracht gewesen sein.
Alles was ihm hier von Philipp berichtet wurde, wusste Nicht von Ungefähr selbstverständlich längst, auch hatte er den Eindruck, dass sich der Freund keine größeren Sorgen, wegen des Einflusses dieser Leute auf die Kontinentalpolitik machte. Aber dann erwähnte Philipp schließlich doch noch einen Namen.
„Vielleicht könntest du aus Putzi was rausbringen“, es klang, als hätte er nur laut überlegt. „Ja, Putzi von Fallersleben, du kennst die Sippschaft, oder?“
Jetzt musste Nicht doch passen, er hatte den Namen von Fallersleben wohl schon einmal irgendwo aufgeschnappt, hätte aber nicht mehr sagen können wo und in welchem Zusammenhang.
„Nicht wirklich“, meinte er daher nur.
„Nun die Familie lebte seit Generationen von der Einfuhr menschlicher Ware aufs Festland“, erklärte Philipp, nachdem er erneut einen großen Schluck von seinem Getränk genommen hatte, das er von dem äußerst diskret sich zurückhaltenden Barmann hinter dem Tresen immer wieder unaufgefordert nachgeschenkt bekam.
„Sklavenhandel! Ein mieses Gewerbe!“, entfuhr es dem Detektiv. Es war kein Wunder, dass die Sippschaft dieses Putzi von Fallersleben nicht eben gut auf den Reichsverweser zu sprechen war. Während der Regierungszeit der Kaiser gehörte der Handel mit Menschen keinesfalls zu moralisch fragwürdigen Unternehmungen, sondern wurde als ehrenwertes Gewerbe betrachtet. Damit schien schon einmal klar zu sein, warum der Vater dieses Putzi sich bei den Monarchisten eingereiht hatte.
„Wie man's nimmt, immerhin war das doch früher allgemein anerkannt. Und ging es denn damals den Ureinwohnern der Inselgruppen weit draußen im Ozean nicht am Ende besser hier auf dem Kontinent, auch wenn sie für ihren Unterhalt arbeiten mussten!?“, fragte Philipp von Quandt erstaunt. Er konnte nicht nachvollziehen, wie man sich hierüber so echauffieren konnte.
„Als Sklaven!? Unfrei? Als Eigentum skrupelloser Großgrundbesitzer? Wie sollte es ihnen denn da besser gehen?“, fragte Nicht fassungslos.
„Na, jetzt tu mal nicht so! Hat nicht dein Großvater noch sich nicht genau solcher Geschäftsleute wie den Fallerslebens gerne bedient, um die Obstplantagen der von Ungefährs zu bewirtschaften?“ Philipp blickte Nicht mit wässrigem Blick, eine Augenbraue nach oben gezogen, forschend skeptisch an.
„Zugegeben“, musste Nicht dem Freund beipflichten. „Aber das heißt keineswegs, dass ich das gutheißen muss!“
„Na, dein Vermögen wirst du wohl kaum deswegen einer karitativen Einrichtung spenden, wenn du in dessen Genuss kommst!“ Die Stimme Philipps hatte jetzt einen unverbrämt spöttischen Unterton angenommen. Nicht wusste auf dieses Argument nichts zu erwidern, er hatte sich hierüber noch niemals Gedanken gemacht und kam sich nun ein wenig vor wie ein Heuchler.
„Wo meinst du, könnte ich diesen Putzi denn antreffen?“, fragte Nicht daher, um schleunigst das Thema zu wechseln, er wollte jetzt nicht weiter über dieses Problem nachdenken.
„Die Familie besitzt ein Schlösschen in der Hauptstadt, früher nur für die unvermeidlichen gesellschaftlichen Verpflichtungen, nun aber weilt der Alte von Fallersleben, des Öfteren in Weentbehl, immerhin ist er Mitglied des Oberhauses. Und jetzt im Frühjahr könnte möglicherweise die gesamte Familie dort wohnen. Ich denke, es liegt an der Rübnitz-Chaussee in Lachapelle, wo auch sonst?“
Ja, dort lagen die meisten der größeren Häuser derjenigen adligen Familien, die sich nicht ganzjährig in der Hauptstadt aufhielten, war dem Detektiv klar. Das Palais der von Ungefährs lag am Rande des gleichen Viertels, und selbstverständlich wusste er, wo die Rübnitz-Chaussee gelegen war.
Nicht nippte noch einmal an seinem Tee, der schon kalt geworden war, und ließ Philipp alleine. Immerhin schien er den Freund in gewisser Weise aufgeheitert zu haben, auch wenn dies so keineswegs beabsichtigt gewesen war. Allerdings sank Philipp von Quandt sofort wieder in sich zusammen, nachdem Nicht das Athenaeum verlassen hatte.
Nachdenklich schritt der Detektiv durch die abendlichen Straßen, er überlegte, wie er bei den von Fallerslebens auftreten wollte. Jetzt war es dafür im Grunde zu spät. Doch immerhin ging es um das Leben eines unschuldigen Mannes und je früher es ihm gelingen würde, etwas über diejenigen herauszufinden, in deren Hand sich dieser Kammergarn befand, desto mehr Chancen hatte der wohl die Geschichte zu überleben. Wenn er denn überhaupt noch am Leben war, dachte Nicht? Sollte man nicht von den Entführern ein Lebenszeichen fordern, war dies nicht das, was man in solchen Fällen üblicherweise tat? Allerdings verlangten die Schurken ja kein Lösegeld von den Hurveniks, sondern wollten, dass sie dieses merkwürdige Drama zur Aufführung brächten. Wie also sollte man mit ihnen in Kontakt treten? Man müsste den Boten abfangen, falls eine neuerliche Botschaft hinterlegt würde. Und wie sollte er etwas aus diesem Putzi herausleiern über die Monarchistenbande, der sein alter Herr dem Anschein nach nahestand? Besser wäre es wohl, das Personal der von Fallerslebens einmal unter die Lupe zu nehmen. Nicht von Ungefähr konnte sich durchaus vorstellen, dass die Hausangestellten der Familie vielleicht nicht ganz so loyal zu ihren Arbeitgebern stehen würden. Wenn man sich vorstellt, wie diese Leute mit Menschen umgegangen waren, die sie einfach ihrer Heimat beraubt und als Sklaven hier aufs Festland verschifft hatten, so behandelten die Mitglieder der Familie von Fallersleben ihre Dienstmädchen und Diener höchstwahrscheinlich ebenfalls immer noch so, wie sie es von früher gewohnt waren, nämlich wie Leibeigene.
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