Auch im Hauptsaal des Athaeneum waren die Wände von dunklen, exotischen Hölzern eingefasst, wenn nicht ebenso dunkle Bücherregale davorstanden, die vor Lesestoff nur so strotzten, obwohl keiner der Anwesenden, die allesamt über den riesigen Raum verteilt, in verschiedenen Ecken in klobigen Polstermöbeln saßen, ein einziges ledergebundenes Exemplar dieser Sammlung in Händen hielt. Überall auf kleinen Beistelltischchen waren jedoch etliche Zeitungen und Zeitschriften in den verschiedensten Zuständen der Zerfledderung verteilt. Vom Weentbehler Anzeiger, dem Abendblatt und der Kontinentalschau, bis zu sogenannten Journalen, deren politische Ausrichtung extrem konservativ zu nennen, eine schwere Untertreibung darstellen würde. Allerdings waren diese Schrifterzeugnisse, die Titel trugen wie Kontinentalspiegel, La Chapelle-Chronicles oder Zeitenhobel, noch diejenigen, die einen gehobenen Intellekt am ehesten würden beschäftigen können. Daher hing diese Art meinungsbildender Journale meist auch noch an den dafür vorgesehenen Ständern, wo man sie in ihren Klemmlatten belassen hatte. Das normale Clubmitglied vertrieb sich die Zeit anscheinend lieber mit Magazinen über die Fuchs und Bärenjagd, Fliegenfischen im Wandel der Jahreszeiten oder Sommerhäuser-Aktuell, wo Ferienchalets in den abgelegensten Orten des Kontinents der reichen Klientel zum Kauf angeboten wurden. Dazu gönnte man sich gerne einen oder zwei Sherry, setzte sich mit ein paar Gleichgesinnten an einen der Whist- oder Bridgetischchen nieder und beschwerte sich bei seinen Artgenossen seufzend über die immer schlechter werdende Welt, an deren moralischem Niedergang in den allermeisten Fällen allein der Reichsverweser Puntigam schuld war.
Nur wenige Frauen waren zugelassen in diesen Etablissements. Zwar konnte es vorkommen, dass der eine oder andere Gentleman seiner Mätresse imponieren wollte, diese dann herumführte und ihr gar das eine oder andere Mitglied des Oberhauses vorstellte, allerdings war dies keineswegs gern gesehen. Und schon gar nicht wollte man in diesem Refugium der Männlichkeit am Ende noch von der eigenen Ehefrau belästigt werden, das schien den Mitgliedern aller dieser honorigen Stätten das Wichtigste zu sein. Zwar war laut Satzung den Gemahlinnen der Eintritt keineswegs verwehrt, doch band diese Tatsache niemand seiner eigenen Frau auf die Nase. Wenigstens hier wollte man schließlich einmal seine Ruhe haben!
„Der Herr Graf sitzt vorne an seinem Platz an der Theke, Herr von Ungefähr!“, meinte schließlich der Butler, als sie den Saal betraten. Nicht hatte seinen Namen nicht nennen müssen, er hatte sich nur nach seinem alten Freund erkundigt, doch schien das Gedächtnis von Jansen die Physiognomien sämtlicher Männer von Adel abgespeichert zu haben. Wahrscheinlich verbrachte er seine ganze freie Zeit mit dem Studium des Prochnowschen Adelsregisters, in welchem von jedem Mitglied sämtlicher Adelshäuser Weentbehl-Lachapelles auch zusätzlich kleine, recht treffende Zeichnungen der Herrschaften abgedruckt waren.
Die Augen Nichts hatten sich kaum an das schummrige Licht gewöhnen können, das die überall an den Wänden verteilten Gaslampen mit ihren grünen gläsernen Lampenschirmen verbreiteten, dennoch war es ihm möglich, die Theke wahrzunehmen, die gleich dem Eingang gegenüber aufgebaut war. Und auf einem der ansonsten leeren Barhocker saß tatsächlich eine Gestalt, in der er schließlich Philipp von Quandt erkannte.
Sein Kamerad aus Kindertagen saß gebückt da, den Oberkörper über das Holz der Theke gebeugt, die Ellbogen in der eingefrästen Abflussrinne versunken.
„Philipp, altes Haus!“, begann Nicht von Ungefähr und kam sich bei dieser Art der Anrede selbst steinalt vor. Aber so redete man nun einmal in Etablissements wie diesem, wollte man nicht vollständig aus der Rolle fallen. „Wie steht es um die Ländereien auf Schloss Quandtwart?"
„Häh“, sagte Philipp nur, er hatte nicht seinen Blick von dem Glas abgewandt, das er beharrlich in der rechten Hand drehte, als ob sein Leben davon abhinge, die Flüssigkeit darin am Rotieren zu halten. Dann erst sah er auf und ein Ruck ging durch seinen Körper, als er den Freund aus Jugendtagen erkannte. „Oh, mein Gott, der Freiherr Nicht von Ungefähr! Das ist ja kaum zu glauben!?“
Die Stimme des Edelmannes bezeigte dem Detektiv auf der Stelle, dass Philipp von Quandt schon etwas zu tief in das Glas vor ihm gesehen haben musste, oder besser nicht nur in dieses eine, welches er momentan in Händen drehte. (Immerhin wurde hier jedes Glas nur einmal benutzt und in einen schmalen Lastaufzug gestellt, der vom Personal dann in die Spülküche im Keller hinabbefördert wurde)
„Ich dachte, ich seh mal, was du so treibst. Und da ich wusste, dass du hier immer schon gerne verkehrtest, da dachte ich, da schau ich doch mal rein!“, erklärte nun der Detektiv seine Anwesenheit in dem Club, in den ihn ansonsten keine zehn Pferde hineinbringen würden. Er konnte dieses ganze elitäre Untersichseinwollen seiner eigenen Klasse im Grunde so gar nicht ausstehen.
„Schön, schön, das wird wohl meine letzte Woche hier sein!“, stöhnte von Quandt und blickte stumpfsinnig vor sich hin.
„Ach, Mensch Philipp, du heiratest doch nur! Das heißt nicht, dass du ab diesem Moment für alle Welt tot und vergessen sein wirst?“, meinte Nicht in dem vergeblichen Versuch, etwas Mitgefühl in seiner Stimme mitschwingen zu lassen.
Selbstverständlich hatte es dem allerersten Privatdetektiv des Kontinents nicht entgehen können, dass sein alter Kamerad in der nächsten Woche das Ehebündnis mit der Contessa zu Zwitschenberg eingehen würde. Selbst im bürgerlichen Weentbehler Anzeiger war von diesem kommenden Ereignis vorab schon berichtet worden. Mit diesem Schritt war die Familie Quandt in der Lage, die Schulden, die sich bei den Banken angehäuft hatten, ein für alle Mal loszuwerden, so vermutete man gemeinhin. Nicht hatte keine blasse Ahnung, wo hier der Vorteil für die Partei der Zwitschenberger liegen mochte, aber vielleicht hatte die Contessa ja tatsächlich einen Narren an dem versoffenen Grafen gefressen. Man konnte ja nie wissen. Allerdings war die Contessa zu Zwitschenberg keinesfalls eine Schönheit, selbst wenn die Zeichnungen im Anzeiger ihr immer noch schmeichelten, so konnte einem doch auch bei diesen Kunstwerken nicht entgehen, dass ihr Näschen keinesfalls vornehm zurückhaltend zu nennen gewesen wäre. Im Original betrachtet verfügte die junge Frau über einen Riechkolben, dessen Größe und Farbe jeglicher Beschreibung spottete. Ja, sie trug einen derart vorstehenden, puterroten Zinken mitten im Gesicht, der einem sechzigjährigen Bierkutscher, der Zeit seines Lebens, dem Gerstensaft und anderen verheerenden Giften ein wenig zu ausgiebig zugesprochen haben mochte, weitaus eher angestanden hätte. Das fliehende Kinn und die ebenso fliehende Stirn machte die Sache nun auch nicht gerade besser. Obwohl ein solch vogelähnliches Aussehen bei einigen der älteren Fürstenfamilien immer mal wieder vorkam, so war doch das Profil der Contessa Augusta keineswegs mit einer zarten Amsel oder einem Rotkehlchen zu vergleichen, sondern ähnelte eher der Silhouette einer der riesigen Geier der aphalusischen Wüstenei. Nicht von Ungefähr konnte sich sehr wohl in den erbarmungswürdigen Zustand seines Freundes hineinfühlen.
„Das sagst du so einfach!“, meinte jetzt Philipp und starrte Nicht von Ungefähr voller Neid über sein Glas hinweg an, bevor er erneut einen kräftigen Schluck nahm. „Ich sag dir mal eins, alter Junge, Augusta sieht nicht nur irgendwie seltsam aus, sie verhält sich auch ebenso! Wenn die mich erst unter ihre Fuchtel gebracht hat, dann gnade mir Gott!“
„Aber ist denn das Aussehen tatsächlich so wichtig?“, fragte nun der Detektiv, obwohl er sich in keiner Weise vorstellen konnte, ein solch hässliches Geschöpf, wie die Contessa Augusta zu ehelichen.
Читать дальше