Im Athenaeum
Nicht von Ungefähr hatte beschlossen, am Abend mit seiner Recherchearbeit fortzufahren. Die Erwähnung des Datums der Premiere des von den Entführern verordneten Theaterstückes, hatte ihm den nahenden Geburtstag seiner Frau Mutter wieder in Erinnerung gebracht. Laurentia sollte an genau diesem Tag die Wiederkehr ihres zweiundvierzigsten Wiegenfestes begehen und zu allem Überfluss hatte Nicht noch keinen Gedanken daran verschwendet, was er ihr denn zu diesem Anlass um Himmels Willen zum Geschenk machen sollte.
„Das Schönste wäre es, du würdest mir ein Enkelkind schenken“, hatte Laurentia von Ungefähr gesagt, als er sie das letzte Mal auf ihren Geburtstag angesprochen hatte, und gleich hinzugefügt: „Aber das Kind soll mich auf keinen Fall Oma nennen, dazu fühle ich mich dann doch noch etwas zu jung, meinst du nicht, Nicht?“
Aus diesem Grund nun streifte der Detektiv bis in die frühen Abendstunden hinein durch die langgestreckte Häuserzeile der Metropole, die seit jüngster Zeit als Sohlenzone bezeichnet wurde; das hieß Fahrzeuge aller Art, mochte es sich nun um einspännige Egoisten, Droschken, oder auch um eines dieser modernen, von stinkenden sogenannten Verbrennungsmotoren betriebenen Blechvehikel handeln, durften hier nur in den frühen Morgenstunden entlangfahren, um die Geschäfte mit Waren zu beliefern. Eine hervorragende Einrichtung, war hierzu die Ansicht Nichts. Früher musste man ständig auf der Hut sein, nicht von einem der riesigen Brauereipferde niedergetrampelt zu werden oder zumindest in die enormen Hinterlassenschaften dieser Tiere zu treten. Heute war spätestens um halb Zehn am Morgen die Straße von allen Pferdeäpfeln befreit, die städtische Müllabfuhr hatte sich in dieser Hinsicht als absolut zuverlässig herausgestellt. 'Auch eine Errungenschaft, ohne die man kaum mehr würde auskommen können', dachte der Detektiv.
Wie mochte es wohl früher gewesen sein? Nicht von Ungefähr war viel zu jung, als dass er noch die letzten Regierungsjahre des Kaisers, Alphons des Vielgepreisten, erlebt hatte, aber er war sicher, dass jetzt, zumindest hier in der Hauptstadt, so lebenswichtige Institutionen wie Wasserwerk, Müllabfuhr und Straßenreinigung wesentlich besser funktionierten als ehedem. Gut, auch hier konnte es schon einmal zu Arbeitsniederlegungen kommen, doch einigten sich die Stadt und die neugegründeten Gewerkschaften normalerweise recht schnell und alles ging wieder seinen geregelten Gang.
Fast hätte man meinen können, es sei Sommer. Ein laues Lüftchen wehte durch die Straßenschluchten, hier in der Sohlenzone waren die Häuser beinahe alle bis zu fünf Stockwerke hoch, dennoch konnte die Sonne auch um diese Zeit einfallen, da die Einkaufsmeile streng geradeaus von Westen nach Osten verlief. Café und Kneipenbesitzer hatten schon Stühle und Tische nach draußen gestellt, die wohl erst Anfang der Woche aus ihren winterlichen Kellerquartieren heraufbefördert worden waren.
Wäre nicht diese lästige Sache mit Laurentia von Ungefährs nahendem Ehrentag gewesen, hätte Nicht schon früher sich an einem der Kaffeehaustische niedergelassen, doch war er beinahe zwei Stunden lang durch die Straßen gelatscht, war vor Schaufenstern, wie hypnotisiert verharrt, war dann weitergegangen, hatte sich in den verschiedensten Abteilungen der größeren Kaufhäuser verirrt, die begannen, ihr Warenangebot auf alle möglichen Bereiche auszuweiten. Wenn vormals ein Geschäft ausschließlich Oberbekleidung für den Gentleman anfertigte und verkaufte, so war jetzt zum Beispiel eine Abteilung Angelsport, Tabakwaren, oder 'Utensilien für den Herrenreiter' hinzugekommen.
Er hatte sich Porzellanservice angesehen und war bei einem Juwelier gewesen. Er spielte kurz mit dem Gedanken an eine verschließbare Brosche mit einem winzigen Gemälde ihres einzigen Sprosses darin, dann war ihm diese Idee jedoch zu kitschig erschienen. Ein viel zu gefühlsduseliges Geschenk für die Frau Mama! Er zog in einer Musikalienhandlung eine Tischharfe in Erwägung; Laurentia von Ungefähr hatte durchaus eine musische Erziehung genossen, kurz darauf aber ließ er auch diesen Gedanken wieder fallen und gab das Unternehmen für den heutigen Tag auf. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren, die ganze Zeit über ging ihm der Fall des entführten Impresario im Kopf herum. Der Detektiv setzte sich schließlich unter die orange-braun gestreifte Markise eines Cafés und bestellte einen zwiefach genobbelten Mokka, um was es sich dabei, außer, dass es irgendwie Kaffee war, genau handelte, war Nicht von Ungefähr vollkommen unbekannt, doch war es Mode hier in der Hauptstadt nun schon seit einigen Jahren geworden, immer neue Kaffeekreationen zu erfinden und ihnen diese blödsinnigen Namen zu geben. Nach Nichts Meinung schmeckte allerdings eins dieser Getränke genau wie das andere. Dann schien ihm die rechte Zeit gekommen zu sein, seinen Freund Philipp in dessen Club anzutreffen.
Philipp von Quandt war ein Internatszögling, wie auch Nicht einer war. Erzogen in einer dieser Anstalten, an denen sich nur die auserwählten Sprösslinge der adligen Häuser tummeln durften. Selbst die Nachkommenschaft der neureichen Fabrikbesitzer und Bankiers war in einigen dieser Institutionen noch immer ausgeschlossen, ohne ein winziges 'von', oder ein noch kleineres 'zu' im Namen blieben einem die Segnungen dieser Institutionen immer noch verwehrt. Aber lange würde das auch nicht mehr so sein. Zwar bemühten sich die Rektoren jener Einrichtungen mittlerweile darum, sich in Sparsamkeit zu üben, doch früher oder später mussten wohl auch die hartnäckigsten Verfechter der alten Ständeordnung einsehen, dass ohne das schmutzige Geld dieses sogenannten Großbürgertums ein finanzielles Überleben nicht mehr möglich war.
Der Club Philipps war im Grunde eine ebenso überkommene Institution wie die traditionsbewussten Internate. Auch hier wurde man ohne Adelstitel nicht als Mitglied aufgenommen. Immerhin war es heutzutage schon möglich auch einmal einen befreundeten Bankier ohne vernünftige Abstammung als Gast dorthin einzuladen, doch war auch dies nicht gern gesehen, wenn man solch einen Faux Pas beging. Gleich wurde hinter dem Rücken desjenigen gewitzelt, er müsse den Kredit bei der und der Sparkasse wohl bitter nötig haben, kein Wunder bei der Gemahlin, was musste er auch eine zu Kuchenbecker ehelichen, der Name allein besagte ja wohl schon alles …, und so weiter, und so fort. Kurzum es handelte sich bei Etablissements wie genannten Clubs um finstere, verrauchte Höhlen des Snobismus, in welchen das Laster der Überheblichkeit zur Tugend erhoben wurde. Ein einziger Sumpf aus Kleinmütigkeit, Arroganz und Inzucht.
Die Sonne ging langsam im Osten unter, als Nicht von Ungefähr die heiligen Hallen des traditionsbewussten Clubs betrat, der im Volksmund Hochnasensaal, eigentlich jedoch Weentbehl-Athenaeum hieß. Allein der vergoldete Türklopfer in Form eines Löwenkopfes machte schon etwas her. Wahrscheinlich, so überlegte Nicht, musste ein Wachmann allein zum Schutz dieses Artefakts eingestellt worden sein, obwohl er in der Nähe der feuerrot lackierten Türe, zu welcher es sieben Treppenstufen hinaufging, niemanden bemerken konnte, der dieser aufregenden Tätigkeit nachzugehen schien. Nach einem einzigen Klopfen nur wurde dem Freiherren geöffnet und der Butler, der ihn nun kurz in Augenschein nahm, zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor er die Entscheidung traf, dass der Gentleman, der vor der Türe stand, als ein ebensolcher einzuordnen war. Dieses instinktive Erkennen eines Menschen von Adel kann unmöglich erlernt sein, dachte Nicht. Diese Fähigkeit musste einem sozusagen schon in die Wiege gelegt worden sein, vielleicht hatte es was mit dem Geruchsinn zu tun. Vielleicht verströmte das blaue Blut der Edelleute eine von normalen Menschen abweichende Duftnote, die nur von höherrangigen Dienstboten auf der Stelle olfaktorisch erkannt werden konnte. Dies waren in etwa die Gedankengänge des Detektivs, als er Jansen, dem Butler durch einen breiten, holzgetäfelten Flur folgte.
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