einen tüchtigen Sprung nicht scheut und von einem
Völkergebiet in das andere schreitet, das jedem dieser
Gebiete hauptsächlichst Eigene vor Augen bringt.
Enge Landesgrenzen beachtete ich, wie der Leser
sieht, auf dieser Wanderung keinesweges. Die Sage
ist patriotischer wie die Politik; sie gibt nichts her von
Deutschland, sie läßt von ihrem heimischen Gebiet
nicht rupfen und zupfen im Süden, Westen, Norden
und Osten; sie behauptet und verteidigt, was einmal
deutsch ist, und hält es eisern fest.
Die Wanderung beginnt am Ursprung des Rheins,
folgt des letzteren Strömung durch das Schweizerland,
streift in das Elsaß, berührt die Pfalz, die Wetterau,
das Moselland, Lothringen und Luxemburg;
steigt zum Niederrhein und Niederland hinab bis
Friesland, grüßt Helgoland und das alte Dithmarschen,
durchgeht Schleswig und Holstein, Mecklenburg
und Pommern, West- und Ostpreußen mit ihren
Ostsee- und Bernsteinküsten, und dann läßt sich der
Wanderer auf den Flügeln der Kobolde von der russischen
Grenze schnell hinweg in das Lüneburger Land
tragen.
Auf Westfalens roter Erde durchschreitet und
durchkreuzt er ein sagenreiches Gebiet, bis er abermals
den Schritt ostwärts lenkt, um die Marken zu
durchirren. Von da zieht es ihn wieder zurück nach
dem westfälisch-hessischen Boden, nach des Harzwalds
Bergen und Burgen, nach des Kyffhäusers Gipfel.
Dann aber lenkt sich der Schritt in das Thüringerland,
der Blick in Thüringens sagenreiche Frühzeit,
auf seine gefeiten Hochgipfel, seine von Sagenwundern
durchrauschten Wälder, seine Klostertrümmer
und Geisterschlösser. Das nachbarliche Vogtland erschließt
seine Welt voll mythischen Zaubers, und
Gera, Ilm und Saale führen zu dem thüringischen
Flachland, das an Sachsen angrenzt. Die sächsischen
Ebenen gewähren ihre Ausbeute, welche, sobald erstere
verlassen werden, das Erzgebirge wie das Riesengebirge
in noch reicherer Mannigfaltigkeit erschließen.
Bis in des deutschen Böhmens Herz, die uralte
Praga, erstreckt sich die Wanderung und wendet
dann, um, vom Fichtelgebirge niedersteigend, fränkischem
Boden zu nahen, dem Laufe der Werra durch
heimisches Gebiet bis wiederum auf hessisches zu
folgen, vom Hessenlande aus das Rhöngebirge zu besteigen
und von diesem herab Mainstrom und
Spessartwald ab und auf zu befahren. Von Bamberg
nach Nürnberg läßt sich schnell gelangen, im Fluge
ist Regensburg erreicht, zu dessen östlichem Stromgelände
der Böhmerwald sich niedersenkt. Durch des
Bayerlandes Gauen mitten hindurch geht es stracks
nach Schwaben und durch Schwaben noch einmal
westlich bis zur Pfalz und nach Baden, wo die letzte
Umkehr genommen wird, um durch Südschwaben und
Südbayern nach den Ufern des Lech und der Isar zu
gelangen, von da zum Hochland emporzusteigen und
vom südlichsten Endpunkt, wie beim Beginn auf Alpenhöhen,
in die steinernen Meereswogen Österreichs
hinüber zu grüßen: Auf Wiedersehen! –
Auf dieser Wanderung nahm ich gern gründliche
und gediegene Sagensammler zu freundlichen Geleitsmännern,
deren Namen ich nur zu nennen brauche,
um der Aufzählung von Büchertiteln überhoben zu
sein. Voran stehen mit vollem Recht die Brüder J.
und W. Grimm; es folgen K. Simrock und A. Stöber
für Rhein und Elsaß, J.W. Wolf für die Niederlande,
K. Müllenhoff für Schleswig-Holstein und Lauenburg,
J.W.A.v. Tettau und J.D.H. Temme für Ost-
und Westpreußen und Litauen, J.D.H. Temme und A.
Kuhn auch für die Marken. Wo ich selbst am besten
Bescheid wußte, bedurft' ich keiner Führer. Für
Baden sorgte treulichst B. Baader, für Schwaben G.
Schwab, und nach ihm E. Meyer, für Bayern A.
Schöppner, letzterer nur mit zu vielem Ballast von
Balladen und Romanzen, die an ihrem Ort wohl erfreuen
mögen, und auch in ausschließlich metrischen
Sammlungen, wie die allgemeindeutschen A. Rothnagels,
H. Günthers, A. Kaufmanns für Franken u.a. gut
beisammen stehen, aber in Sagensammlungen wie die
vorliegende nicht gehören. Daß neben den genannten
noch viele andere Werke benutzt werden mußten, Provinzsagensammlungen,
Chroniken, Topographien u.
dgl., versteht sich von selbst. Auch dem vogtländischen
altertumsforschenden Vereine zu Hohenleuben
verdanke ich schätzbare Beiträge.
Keinen einzigen Gewährsmann habe ich geradezu
abgeschrieben, weder die neuen, noch die alten, denn
das erachte ich für eine gar geringe Kunst. Kinderleicht
ist es, ein Buch zu füllen, wenn man wörtlich
abdrucken läßt, was andere bereits drucken ließen.
Nur wo ich Sagen in Dialekten in das Hochdeutsche
zu übertragen hatte, übertrug ich meistens treu, um
ihre Spitzen nicht abzustumpfen; außerdem habe ich
jede Sage zu meinem Eigentum gemacht und sie nach
meiner Eigentümlichkeit wieder neu erzählt; nur aus
eignen, früher von mir selbst veröffentlichten Sagensammlungen
nahm ich einzelne wörtlich wieder auf,
und auch diese nicht ohne Feile.
Ob ich den rechten Ton traf, wird sich zeigen. Einfachheit
im Ton der Erzählung ist beim Wiedergeben
der Sagen unerläßliche Bedingnis; keine novellistische,
romanhafte Verwässerung, keine blümelnde
Schreibweise steht der Behandlung der Sagen an, wo
diese Selbstzweck ist – wohl aber darf der Erzählungston
wechseln je nach dem Stoff, ja selbst nach der
Zeit, der dieser Stoff angehört; er darf streng, herb
und derb, romantisch, lustig, kernhaft, nicht minder
idyllisch, rührend und erschütternd sein. Der Sagenerzähler
muß wissen, welche Tonart er anzuschlagen
habe; eine nach vorgefaßter Meinung bestimmte von
ihm zu fordern, dazu ist keine Berechtigung vorhanden.
Über einen Leisten läßt sich nicht alles schlagen.
Die Sagen können so wenig eines Schriftstiles sein
wie Häuser und Kirchen eines Baustiles. Das Einerlei
ermüdet, und leicht wird ein frischer Geist des trockenen
Tones satt. Viele Sagen sind so durch und durch
voll Humor, daß ernste Erzählungsweise sie töten
hieße – darum ward zum öftern die heitere vorgezogen.
Metrisch bearbeitete Sagen in Prosa aufzulösen
trug ich die größte Scheu und habe es nur einigemal
getan; einmal beim alten Tannhäuserlied, dann bei
Nr. 81, Der wilde Jäger, nach Bürgers Gedicht, weil
dessen Ursprung ausschließlich in der bezeichneten
Gegend zu suchen ist, bei Nr. 174, Die Schlacht auf
dem Tausendteufelsdamme, nach einem Gedicht von
Th. Fontane, und endlich bei Nr. 966, Eines Vaterunsers
Wert, nach einem Gedicht von Th. Holscher (bei
Schöppner), weil mir beide letztere Stoffe ausnehmend
wohl gefielen, und namentlich auch die poetische
Behandlung.
Manche Sage, die ich allzudürftig auffand, konnte
ich erweitern, aus Kenntnis ihrer Örtlichkeit oder aus
andern schriftlichen und mündlichen Quellen, manche
andere mußte ich kürzen und auf das rechte Maß zurückführen.
Viele Sammlungen, ich will nur K. Geibels Rheinsagen
und Lübecks Volkssagen von H. Asmus nennen,
waren wenig zu benutzen, weil das meiste darin
zu eigenmächtig ausgeschmückt, fast novellistisch erweitert
ist. Vornehmlich galt es auch, die spät erst gemachte
Sage links liegen zu lassen, welche die Reisehandbücher,
besonders die den Rhein betreffenden, so
häufig bieten.
Außerdem fand ich noch mancherlei Beschränkung
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