»Dann sprecht, lasst uns gleich beginnen!«
Sophia schüttelte entschieden ihr Haupt.
»Nein, Pater. Kommt bitte morgen wieder.«
»Wie Ihr wünscht, Schwester. Gelobt sei Jesus Christus«, verabschiedete sich Maurus und verließ das Gemach der Nonne.
*
4.2 Maria Magdalena
Hohes Venn, 21. November AD 1626
Auf die bittere Kälte der letzten zwei Wochen folgte jetzt Regen, der die hart gefrorenen, schneebedeckten Wege in gefährliche Rutschbahnen verwandelte. Eigentlich wollte Matthias noch vor Einbruch der Dunkelheit den Ort Montjoie (Monschau) erreichen. Mühsam quälten sich Reiter und Pferd durch das Hohe Venn. Der Bauer des letzten Hofes, in welchem Matthias übernachtet hatte, hatte ihn gewarnt, niemals den Weg zu verlassen, da dieser gefährlich nahe an einem tückischen Hochmoor vorbeiführe. Dort sei schon so mancher Reisende auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
Der rutschige Weg und das Moor verlangten schon allein seine volle Konzentration, aber seit geraumer Zeit beschlich den Advocatus, wie man ihn auch nannte, das ungute Gefühl, verfolgt zu werden. Er tätschelte seinem Pferd den Hals und beugte sich herunter. Dabei drehte er unauffällig den Kopf, versuchte etwas auszumachen. Nichts! Matthias richtete sich wieder auf und trieb Reittier und Packpferd an, denn er wollte den nahen Wald erreichen, um sich dort einen geeigneten Lagerplatz zu suchen. Eine Nacht auf freiem Feld schien ihm zu riskant. Sein Gefühl hatte ihn bisher selten im Stich gelassen. Vielleicht waren tatsächlich Wegelagerer oder Wölfe hinter ihm her.
Mandelförmige, schräg nach oben gerichtete Augen waren scharfe Beobachter der Szenerie. Kaum zu erkennen lugten sie aus dem Schnee heraus und bekamen jede Regung von Reiter und Pferden mit, die sich jetzt schneller in Richtung Wald bewegten. Als der Abstand genügte und sich das Wesen sicher war, vom Reiter nicht entdeckt zu werden, erhob es sich langsam aus dem Schnee und nahm die Verfolgung auf.
Im Wald fand Matthias schnell eine Stelle, die durch Felsen und Dickicht gut geschützt war. Dort wartet er, bis er sicher war, dass ihm keine Menschenseele gefolgt war und entzündete schließlich ein wärmendes Feuer. Mit der hereinbrechenden Nacht wurde es wieder bitterkalt. Die Kälte kroch schnell in alle Glieder und ohne Feuer würde er sicherlich erfrieren. Der Bauer hatte dem Advocatus ein Stück Pökelfleisch mitgegeben, das er mit Hilfe seines Messers in mundgerechte Stück schnitt und kaute. Gegen den starken Salzgeschmack half ihm Schnee, den er in einem Kessel über dem Feuer auftaute.
Im Wald herrschte eine beinahe feierliche Stille, die nur durch das Prasseln des Feuers durchbrochen wurde. Plötzlich war ein lautes Knacken zu hören. Matthias bewegte sich nicht, tat so, als habe er das Geräusch überhört, doch innerlich war er augenblicklich auf alles gefasst. Langsam kaute er weiter an dem Stück Fleisch, das er sich gerade in den Mund geschoben hatte, wobei sich unmerklich seine Linke unter der ihn wärmenden Decke auf die griffbereit liegende Pistole zu bewegte. Vorsichtig fingerte er nach der Waffe, zog sie bedächtig heran, bis er den Knauf greifen konnte. Dann spannte er den Abzugshahn.
Jetzt suchten seinen Augen den finsteren Tann in der Richtung ab, aus der er das Geräusch gehört hatte.
*
Lechenich, churfürstliche Burg
Nachdenklich stieg Maurus die Treppen hinauf zu den Gemächern der Nonne, die ihr Gefängnis waren. Die Tatsache, dass man die Ärmste ab dem kommenden Montag der Folter unterziehen wollte, hatte ihn die vergangene Nacht kaum schlafen lassen. Fieberhaft suchte er nach einer Lösung und betete für Schwester Sophia Agnes von Langenberg. Doch so sehr er sich auch mühte, ihm wollte nichts Rechtes einfallen und Gott schwieg, wie es ihm schien. Hatte ER die Welt vielleicht schon verlassen? Verzagt klopfte er an, drückte die Türklinke herunter und trat ein.
Die Nonne kniete vor einem kleinen Zimmeraltar und betete. An einer Kommode machte sich eine ältere Magd zu schaffen. Sie blickte auf, als Maurus eintrat. Die Nonne machte das Kreuzzeichen und erhob sich.
»Guten Morgen, Pater, Ihr seid aber sehr früh«, grüßte sie freundlich.
»Guten Morgen, Schwester, ich versuche nur, Eurem Wunsche zu folgen, da Ihr ja noch einiges mit mir bereden wolltet«, erwiderte Maurus den Gruß und blickte zur Magd, die wieder an der Kommode beschäftigt war.
»Oh, das ist Bertrada, meine Magd. Sie stört nicht. Sie ist mir inzwischen auch nicht nur Magd, sondern Vertraute und Freundin zugleich.«
»Aber das Beichtgeheimnis«, beharrte Maurus darauf, dass die Magd störte. Es war eine Ausrede, dessen war er sich bewusst, aber es gab ein paar Dinge zu besprechen, die seiner Meinung nach nicht für fremde Ohren bestimmt waren.
»Ich verstehe!«, gab die Nonne zurück. »Bertrada, sei so lieb und begebe dich nach nebenan.«
Die Magd nickte und warf Maurus einen verächtlichen Blick zu, sie mochte den Jesuiten nicht.
»Dann sprecht jetzt, Schwester«, forderte Maurus die Nonne auf, nachdem die Magd die Tür hinter sich geschlossen hatte. Sophia schaute zum Kruzifix an der Wand und schließlich zum Fenster, ihr Blick schweifte in die Ferne.
»Er ist auf dem Weg«, sagte sie leise, so dass es nur der Jesuit verstehen konnte.
»Wer?«
»Euer Freund, er kommt zurück!«
»Matthias? Woher wisst Ihr…?«, wollte Maurus aufgeregt wissen.
» Sie hat es mir gesagt, in der vergangenen Nacht, in meinen Träumen. Sie kam zu mir und zeigte ihn mir.«
»Wie, wer?« Maurus war verwirrt.
»Miriam von Magdala. Er schlief im Wald, doch er ist behütet. Sie wacht über ihn. Er hat noch eine Aufgabe zu erfüllen.«
»Ja, wir müssen noch etwas aus den Gräbern unterhalb des Cassius-Stiftes bergen. Doch ich weiß nicht, wie uns das gelingen soll. Die Zugänge sind verschüttet, Erzbischof Ferdinand hat verboten, die Totenruhe zu stören.«
»Euer Freund ist ein mutiger Mann. Er wird eines Tages einen Weg finden, trotz aller Gefahren.«
»Von welchen Gefahren sprecht Ihr jetzt?« Maurus rutschte unruhig auf seinen Stuhl hin und her.
»Große Gefahren, denkt an gestern. Ich sagte es Euch, der Tod ist ebenfalls auf dem Weg und ihm folgt die Hölle nach.«
»Ist er in Gefahr?« Maurus sprang auf.
»Nein, ich sagte Euch doch, Pater, er ist beschirmt«, beruhigte die Nonne den Jesuiten, der sich gleich wieder setzte.
»Wann wird Matthias eintreffen?«
»Bald, sehr bald.«
»Gut, er wird Euch helfen, er ist ein guter Anwalt.«
»Mein Leben liegt in Gottes Händen. Euer Freund wird mir nicht helfen können.«
»Aber Ihr müsst Euch verteidigen. Ihr dürft Euch nicht dem Schicksal ergeben.«
»Ich ergebe mich nicht dem Schicksal, ich sagte doch, mein Leben liegt in Gottes Hand.«
»Aber dennoch…«, versuchte Maurus zu protestieren, doch Sophia gebot ihm mit erhobener Hand zu schweigen.
»Verzeiht mir, Pater, aber darüber möchte ich nicht mit Euch diskutieren. Ich muss meine Zeit nutzen und Ihr solltet die Eure ebenfalls nicht vergeuden. Es gibt noch etwas anderes zu enträtseln.«
»Noch etwas anderes? Ihr verwirrt mich«, klagte Maurus und verspürte mit leichtem Unbehagen aufkommende Gefahr.
»Ja, und es ist nicht ungefährlich, denn Ihr müsst Euch mit den Toten auseinandersetzen.«
Maurus sprang auf.
»Was um alles in der Welt verlangt Ihr da? Seid Ihr etwa doch des Teufels?«
»Beruhigt Euch und setzt Euch wieder. Es ist Sie, Ihr müsst es für Sie tun! Ihr sollt für Sie etwas befreien!«
*
Hohes Venn, 21. November AD 1626
Ein kleiner gefrorener Zweig brach unter seinem Gewicht und verursachte ein lautes Knacken. Der Mensch am Feuer hatte das Geräusch auch vernommen, denn er wirkte plötzlich angespannt und aufmerksam. Das Wesen duckte sich und kauerte sich so tief er konnte, um sich zwischen dem Gebüsch zu verbergen.
Читать дальше