Bei seiner letzten Rast hatte der Mensch Fleischreste liegen lassen. Es schmeckte zwar widerlich, doch es stillte den Hunger. Der frühe Winter war hart und es gab wenig zu jagen im Venn. Darum folgte es dem Menschen in der Hoffnung auf weitere Nahrung. Ein schlurfendes Geräusch erregte jetzt seine Aufmerksamkeit. Ein kurzer Blick zu dem Menschen am Feuer sagte ihm, dass dies nicht von dort kam. Aufmerksam spitzte es seine Ohren und wusste im Nu, woher das Geräusch gekommen war. Vorsichtig kroch es aus seiner Deckung.
Zwei weitere Menschen bewegten sich durch den Wald, offenbar durch das Feuer angelockt. Sie hatten Waffen in den Händen, gaben sich jetzt Zeichen und teilten sich danach. Sie bewegten sich mit einer Leichtigkeit und Geräuschlosigkeit, die es ihnen nicht zugetraut hätte. Ob sie auch auf der Jagd waren? Neugierig und voller Aufmerksamkeit beobachtete es ihre nächsten Schritte.
Matthias hatte die Pistole jetzt fest in seiner Hand und das Steinschloss gespannt. In einem Gebüsch glaubte er, die Umrisse eines Wolfs auszumachen. Langsam und mit großem Bedacht erhob er sich, bewegte sich auf das Unterholz zu. Etwa fünf Schritte davor blieb er stehen und richtete seine Waffe darauf.
»Heb die Hände hoch und lass die Pistole fallen«, hörte der Anwalt plötzlich eine Stimme hinter sich. Eine Falle, dachte er bei sich, eine verdammte Falle. Und ich bin drauf reingefallen!
»Dreh dich ganz langsam um!«
Langsam hob Matthias die Hände und hielt die Waffe über dem Kopf.
»Du sollst die verdammte Pistole fallen lassen, bist du taub?«, zischte jetzt eine andere Stimme. Matthias bewegte den Kopf zur Seite und erkannte einen weiteren Mann schräg hinter ihm, der ihn mit einem Spieß bedrohte. »Los jetzt, du Scheißkerl«, wurde der Mann lauter und stocherte mit dem Spieß in Matthias Richtung.
Der Advocatus machte einen Schritt zur Seite und hatte so beide Gegner im Blick, sowohl den mit der Pistole, als auch den mit dem Spieß Gleichzeitig ließ er seine Pistole in den Schnee fallen. Dabei löste sich krachend ein Schuss. Für den Bruchteil einer Sekunde waren die beiden Räuber abgelenkt. Das war der Moment des Angriffs. Wie aus dem Nichts sprang ein Wolf oder riesiger Hund heran und riss den mit der Pistolen bewaffneten Räuber zu Boden. Dieser feuerte zwar noch seine Waffe ab, doch die Kugel verfehlte das Ziel. Der andere Wegelagerer war so verdattert, dass ihn Matthias‘ jetzt folgender Angriff völlig überraschte. Ein gezielter Tritt gegen den Spieß ließ den Mann die Gewalt über die Waffe verlieren. Ein Sprung nach vorn und Matthias war vor dessen Gesicht. Ein Faustschlag brach dem Räuber die Nase und ließ ihn jaulend zu Boden stürzen. Ein kurzer Blick zu dem anderen Angreifer zeigte Matthias, dass dieser mit dem Wolf oder was auch immer es war, heftig kämpfte. Beide wälzten sich im harschen angefrorenen Schnee hin und her. Der Räuber versuchte, mit einem Dolch auf das Tier einzustechen, während Matthias seinen Kumpan mit einem weiteren Fausthieb bewusstlos schlug. Dann ließ ihn ein Jaulen aufschrecken. Der Räuber hatte es geschafft, das Tier zu verletzen und sich von ihm loszureißen. Instinktiv griff Matthias nach dem Spieß, denn der Bandit wollte sich gerade auf ihn stürzen. Bei dem Anblick des Spießes stockte der Räuber, aber im selben Augenblick sprang das Tier ihn von hinten an. Der Mann stolperte und fiel nach vorn in den Spieß hinein, der ihn durchbohrte. Ungläubig röchelnd, mit weit aufgerissenen Augen ließ er seinen Dolch fallen und sackte in sich zusammen. Matthias ließ den Spieß los und fiel keuchend auf die Knie. Der Blick des sterbenden Räubers ging zu dem Tier. Blut quoll aus seinen Mundwinkeln.
»Du verdammtes Mistvieh«, waren seine letzten Worte, bevor er starb. Matthias erhob sich und wankte zu seinem Pferd, um ein Seil zu holen, mit dem er den bewusstlos geschlagenen Banditen fesselte. Anschließend schleppte er sich erschöpft auf das verletzt und blutend am Boden liegende Tier zu.
»Danke mein Freund«, keuchte er, »du hast mir wohl das Leben gerettet.« Dann untersuchte er, wo das Tier verletzt war. Der scharfe Dolch des Räubers hatte den rechten Vorderlauf verletzt. Matthias verband die Wunde mit einem in streifen gerissenen Tuch. »Das wird schon wieder«, sagte er und streichelte den muskulösen Leib. Das Fell des Tieres war weiß und schwarz gefleckt. »Was bist du? Ein Wolf, ein wilder Hund oder mein Schutzengel?«
Das Tier hob jetzt den Kopf und sah den Advocatus aus seinen schwarzen, aber warmen Augen hechelnd an. Es war ein Blick, der in Matthias Erinnerungen auslöste.
»Nein, das kann unmöglich sein«, murmelte er, verdrängte die mit Macht auf ihn einstürmenden Erinnerungen und begab sich zurück zum wärmenden Feuer. Er legte noch ein paar Äste nach, denn die Nacht würde noch lang sein. Dann kümmerte sich um den noch immer bewusstlosen, gefesselten Wegelagerer. Er schleppte ihn zum Feuer, damit dieser in der eiskalten Nacht nicht erfror. Schließlich bereitete er sein Nachtlager und deckte sich, das verletzte Tier beobachtend, mit wärmenden Decken zu. Matthias überlegte einen Augenblick, was es wohl sei, dann entschied er sich, dass es wohl ein Wolfshund sein müsste. Dieser hatte ihn die ganze Zeit fixiert, jede seiner Bewegungen verfolgt.
Als der Advocatus eingeschlafen war, erwachte der übriggebliebene Räuber und versuchte, sich von seinen Fesseln zu befreien. Der Wolfshund grollte leise in dessen Richtung, erhob sich, fletschte die Zähne und heulte dann in die mondlose Nacht.
*
4.3 Kirche der verlorenen Seelen I - Verdammnis
Lechenich, churfürstliche Burg
Fragend blickte Maurus die Nonne an. »Dann sprecht, Schwester, aber ich kann Euch nichts versprechen.«
Sophia Agnes von Langenberg nickte.
»Ich verstehe, aber hört mir, nein, hört Ihr zunächst zu!«
Die Nonne machte eine kurze Pause, schloss für einen Augenblick die Augen um sich zu konzentrieren.
»Es gibt einen Ort, an dem einst grausames Unrecht geschah. Ein Ort, der vergessen wurde ob dieser großen Sünde. Ein Ort, an dem die Seelen der Verlorenen noch immer gefangen sind.«
»Augenblick, entschuldigt, wenn ich Euch sogleich unterbreche, aber warum sind dort, an diesem Ort, Seelen gefangen?«, wandte Maurus ein.
»Lasst mich einfach sprechen. Ihr werdet mich sodann verstehen, Maurus Schouwenaars van Leuven.«
Als Maurus seinen vollen Namen hörte, sah er die Nonne merkwürdig an. Woher wusste sie das, kannte sie seinen vollen Namen? Und war da nicht ein sanftes Lächeln auf ihren Lippen. Mit einem Male hatte der Jesuit das Gefühl, jemand anders spräche zu ihm, und er fühlte sich seltsam berührt.
»Einst war dieser Ort Gott geweiht und alle Menschen hatten dort das Recht, zu Gott zu beten oder mit ihm ins Zwiegespräch zu kommen. Es war ein Ort, an dem jedem, gleich welcher Herkunft, Religion oder welchen Geschlechts Zuflucht gewährt wurde. Es wurden alle aufgenommen, Männer, Frauen und Kinder. An diesem Ort wurde der Weg der Liebe und des Lichts gelehrt. Es war ein Tor zum Himmel. Doch Angst, Neid und Hass brachten großes Unglück über diesen Ort. Man fiel über diese friedliche Gemeinschaft her, zerstörte ihre Kirche, tötete alle, die dem Massaker nicht rechtzeitig zu entfliehen vermochten. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Man verfluchte diesen Ort und belegte ihn mit dem Bann des Vergessens. Sie löschten diesen Ort aus allen Urkunden, Edikten und Traktaten. Nie wieder sollte je ein Mensch auch nur ein Wort über diesen Ort verlieren. Er und die Menschen, die dort lebten, hatten nie existiert! Die Heimstatt guter Seelen wurde ein Hort der Verdammnis. So gerieten auch die Seelen derer, die dort gestorben sind, in Vergessenheit und finden nicht den Weg zurück ins Licht. So sind sie verloren und wandeln in Finsternis und Verdammnis.«
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