„Schon gut. Schon gut. Ich mach ihnen ja die Tür auf. Aber nur gegen Bares.“
„Selbstverständlich bezahlen wir ihre Mühe sofort. Es wäre ja zu schade, wenn wir extra wieder fahren müssten, nur um den Schlüssel zu holen. Soviel Hin-und-Her-Reiserei das halte ich nicht durch. Ich fühl mich jetzt schon ganz schwindelig.“ Bertha legte ihre rechte Hand auf die Brust und taumelte etwas. Was den Schlüsseldienstmitarbeiter veranlasste, nun möglichst schnell die Tür zu öffnen, bevor die alte Frau ihm noch tot in die Arme fiel.
„So bitte schön, die Damen.“ Er hielt ihnen sogar die schwere Tür auf. Bertha drückte ihm das Geld in die schwieligen Hände und schloss die Tür.
„Das war filmreif.“ Inge klatschte begeistert in die Hände. Und Bertha deutete sogar eine kleine Verbeugung an. Doch gleich darauf wurden sie still. Es war unheimlich, Staub und Spinnweben überall.
„Wie lang ist die denn schon unbewohnt?“, fragte Inge leise.
„Das weiß ich auch nicht. Aber schon lange.“ Bertha schlich durch die große Eingangshalle. Unter ihren Füssen knarrten die Holzdielen. Eine breite geschwungene Treppe führte nach oben.
„Das ist ja fantastisch, wie bei ‚Vom Wind verweht‘. So ein schönes Haus. Wie kann man das nur so herunterkommen lassen?“ Inge war gerührt. Sie betrat den linken Flügel. Ein Esszimmer mit angrenzender Küche. Alte Möbel standen, wie Geister in den Ecken, zugehängt mit großen weißen Laken. Stuck rahmte die Wände und Decken.
Fast ehrfürchtig gingen die Frauen durch den großen Raum und betraten die Küche. Gegenüber der Tür war ein großes Fenster. Durch dies hindurch konnte man in den einst herrschaftlichen Garten sehen. Unter dem Fenster stand das Spülbecken.
Bertha ging zum Wasserhahn. Erst das gurgelnde Geräusch, holte nun auch Inge in die Realität zurück.
„Wir müssen das Tageslicht nutzen und einige Räume bewohnbar machen.“, meinte Bertha. Sie sah der braunen Flüssigkeit zu, die den Wasserhahn plätschernd verließ. Aber nun mit jedem verrinnenden Liter klarer wurde.
„Sieht so aus, als hätten wir schon mal fließendes Wasser.“, sagte sie zufrieden.
„Sind wir jetzt Hausbesetzer?“, wollte Inge wissen. Und ein wohliges Kribbeln glitt über ihren Körper. „Cool“, sagte sie leise. „Das ist wirklich ... cool.“ Das Wort klang so ungewohnt aus ihrem Mund und doch mochte sie es. Nichts schien ihr jetzt besser dazu zu passen.
Das Haus war ein Glücksgriff. Die Toilette funktionierte und Wasser hatten sie auch. Sogar Strom gab es. Allerdings wollten sie das Licht nicht benutzen, um nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen. Nachdem sie alle Räume soweit begutachtet und festgestellt hatten, dass das Haus ungewöhnlich gut erhalten war, es tropfte kein Wasser durch die Decke und das obere Stockwerk schien auch nicht baufällig zu sein, machten sich die Freundinnen auf den Weg das Nötigste für die erste Nacht zu besorgen. Also Schlafsäcke, Putzzeug und Essen. Inge hatte dann noch die geniale Idee batteriebetriebene Lichterketten mitzunehmen, und einen Schreibblock, immerhin mussten sie ja eine Rebellion planen.
An diesem Abend putzten sie noch die Küche und das Esszimmer. Dort richteten sie sich dann mit ihren Schlafsäcken ein. Unter den großen Laken hatten sie nicht nur einen wunderschönen geschwungenen Tisch gefunden, sondern auch Sessel, Stühle, ein Sofa und ein Chaiselongue.
Sie hatten den Staub zusammengefegt und aufgewischt. Nun war es richtig gemütlich. Ihre Schlafsäcke breiteten sie auf den Polstermöbeln aus. Dann legten sie sich hin. Der Stoff der Schlafsäcke raschelte leise bei jeder Bewegung. Das ist ja fast wie im Zeltlager, dachte Bertha.
„Und was nun?“, fragte Inge in das Halbdunkel des Esszimmers hinein. Sie hatte ihren Haarknoten gelöst und einen silbrigen Zopf geflochten. Bertha lag auf dem Rücken. Ihre Hände lagen unter ihrem Kopf. Sie starrte in den Kronleuchter und beobachtete die Lichtreflexionen der Lichterkette.
Tief atmete sie ein. Dann drehte sie sich Inge zu.
„Wir müssen unsere Rebellion planen. Überlegen was wir tun können gegen die Vereinsamung und Ausgrenzung von Senioren. Wo und wie man Menschen und Institutionen erreicht. Aktivierung, Inge. Aktivierung.“, sagte Bertha müde.
„Ja, das machen wir. Aber erst morgen. Heute wird sich ausgeruht. Es war ein langer aufregender Tag gewesen.“ Inge gähnte.
„Ab Morgen sind wir dann Aktivisten!“
Am nächsten Morgen roch es im Haus schon herrlich belebend nach Kaffee. Bertha hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Sie streckte vorsichtig ihren Rücken und die Arme. Morgens in Schwung kommen, war gar nicht so leicht. Sie saß auf der Couch, auf der sie geschlafen hatte. Ihre Beine baumelten über die Kante. Sie dachte an die vergangene Nacht. Halb im Traum, halb in der Realität hatte sie ihren Auszug immer wieder durchgespielt. War es ein Fehler gewesen? Was hatte sie nur gemacht? Ihr ganzes Hab und Gut weg zu geben und Sybille nichts davon zu sagen, war ihr schwerer gefallen, als sie sich eingestehen wollte.
„Guten Morgen. Na wie hast du geschlafen?“ Inge strahlte. Sie stellte gerade Toast, Butter und Marmelade auf den Tisch. Durchs Fenster floss ein Band weicher Sonnenstrahlen durch den Raum und kleine Staubkörnchen tanzten filigran darin. Alles strahlte eine beruhigende Friedlichkeit aus.
„Haben wir das Richtige getan?“, fragte Bertha leise und setzte sich seufzend an den Tisch. Inge trat zu ihr.
„Du willst doch nicht schon aufgeben?“
„Nein. Das nicht. Aber ich frage mich, ob wir den Staub wirklich loswerden können.“ Sie griff nach den Staubkörnchen in der Luft. Konnte aber keines erwischen.
„Wir haben doch schon so viel erreicht. Es war nicht gerade einfach gewesen so sang- und klanglos unterzutauchen. Die Kinder werden sich schreckliche Sorgen machen. Aber zurück? Nein, Bertha. Ich gehen nicht zurück in mein altes Leben, zurück in eine kalte Wohnung. Wozu auch? Um zu warten, dass irgendwann mal einer vorbei kommt? Nein!“ Inge stand, die Hände auf den Tisch gestützt vor Bertha.
„Ich sage dir, wir haben alles richtig gemacht. Und heute schmieden wir Pläne. So wie du es gesagt hast.“
Bertha war erstaunt, wie resolut ihre Freundin auf einmal wirkte. Nur eine Nacht in diesem Haus und schon war sie ein anderer Mensch geworden.
Aber es war nicht nur die eine Nacht als Hausbesetzerinnen. Es waren die vergangenen Wochen, die Wohnungsauflösungen, das Trennen von alten Gewohnheiten, das Aufbrechen. Auch Bertha hatte diese Energie gespürt. Doch waren sie mit ihren 80 Jahren nicht doch zu alt für das alles hier? Ihr Blick wanderte über den Frühstückstisch und dann zu Inge, die sie fragend ansah.
„Komm, lass uns erst einmal etwas essen. Dann sehen wir weiter.“, sagte Inge. Sie spürte die Zweifel, die in der Luft lagen. Bertha setzte sich ihr gegenüber und nahm sich ein Toast. Zuversichtlich nickte sie ihrer Freundin zu. Und Bertha konnte nicht anders, sie musste lachen. Nein wie erfrischend und aufregend das alles war, dachte sie. Dann trank sie ihren Kaffee und plauderte mit Inge.
Das Frühstück war zu zweit viel besser gewesen, als immer allein zu essen. Dazu der Blick in den schönen Garten. Bertha hatte sich immer ein Haus mit Garten gewünscht. Sie verließ die Küche und trat ins Freie. In den hohen Thujahecken saßen Vögel und zwitscherten. Die große Rasenfläche war lange nicht gemäht wurden. Sie überwucherte sogar die Gehwegplatten. Lange Grashalme kitzelten Bertha am Bein. Das satte Grün in allen erdenklichen Schattierungen, die bereits einsetzende Herbstfärbung in den Laubbäumen und das sanfte Licht hatten eine sehr beruhigende Wirkung auf Bertha. Die kleine sonst so impulsive Frau schritt langsam durch den Garten, machte hier und da Rosensträucher und Staudenbeete aus.
Читать дальше