Die Hexe klettert die Leiter herab in den Keller der Hütte, in dem sie ihre Tränke braut. Kurz darauf kommt sie mit einem Glaskolben voller rosafarbener Flüssigkeit zurück. Ein appetitlicher Duft geht davon aus.
„Hier, ein paar Tropfen davon ins Essen genügen, dann hat dein Primo wieder nur noch Augen für dich.“
„Vielen Dank, Ruuna!“
Golina verabschiedet sich und macht sich mit dem Trank auf den Heimweg.
Unterwegs kommen ihr Zweifel. Soll sie Primo wirklich Ruunas Liebestrank ins Essen schütten? Ist es denn überhaupt echte Liebe, wenn er nur wegen des Tranks in sie verliebt ist? Andererseits wäre es schon schön, wenn Primo nur noch Augen für sie hätte ...
Als sie nach Hause kommt, hockt Primo immer noch am Küchentisch und glotzt auf die dämliche Landkarte. Ihn dort sitzen zu sehen, beseitigt alle Zweifel, die Golina noch hatte.
„Schatz, kannst du bitte mal kurz zu Hakun gehen und etwas Rindfleisch kaufen?“, säuselt sie. „Ich möchte heute zum Mittagessen einen leckeren Eintopf kochen.“
„Hmmja, gleich“, murmelt Primo, macht aber keine Anstalten, aufzustehen.
„Schatz, bitte, jetzt gleich, sonst wird der Eintopf nicht rechtzeitig fertig!“, sagt sie energischer.
Primo blickt auf. „Na gut, okay. Was war es nochmal, das ich besorgen sollte?“
Golina seufzt. „Rindfleisch.“
Als er gegangen ist, setzt sie einen Topf mit Suppe auf. Als sie gerade ein paar Tropfen von dem Liebestrank hineinschütten will, geht die Tür auf und Nano kommt herein.
„Hallo Mama. Wieso muss ich eigentlich zum Unterricht bei Birta und Maffi nicht? Das ist total doof. Wenn ich allein bei ihr bin, ist Birta noch gemeiner als sonst. Könnten wir nicht auch mal ans Meer fahren? Was hast du da eigentlich für einen rosa Trank in der Flasche?“
Erschrocken stellt Golina die Flasche neben den Herd.
„Das ... das ist ein Gewürz“, behauptet sie. „Damit das Essen besser schmeckt.“
Nano kommt zu ihr.
„Das riecht lecker!“, sagt er. „Darf ich mal probieren?“ Er greift nach der Flasche.
„Nein!“, ruft Golina.
Sie will ihm die Flasche wegnehmen, doch dabei rutscht sie ihr aus der Hand und fällt auf den Boden. Der Glaskolben zerbricht und eine Pfütze der rosa Flüssigkeit breitet sich aus.
„Jetzt sieh, was du angerichtet hast!“, ruft Golina empört.
In diesem Moment kommt Primo zusammen mit Paul hinzu.
„Was ist denn passiert?“, fragt er. „Hm, das rieht aber gut!“
„Mama wollte diesen Trank ins Essen kippen, aber ich durfte nicht probieren“, erklärt Nano.
Golina hofft, dass Primo nicht sieht, wie sie rot anläuft.
„Das ... das ist ein Gewürz“, erklärt sie.
„Ein Gewürz? Was denn für eins?“
„Von ... von Ruuna“, stammelt sie. „Ich war vorhin bei ihr, um sie nach einem, äh, Rezept zu fragen, und da hat sie mir diesen Liebes... ich meine, das Gewürz gegeben. Paul, aus!“
Der Wolf hat inzwischen angefangen, die rosa Pfütze aufzuschlabbern. Golina scheucht ihn aus dem Haus, ehe er sich noch an den Glasscherben verletzt.
In diesem Moment geht Asimov draußen vorbei. Als Paul ihn und die Katze auf seinem Kopf sieht, bleibt er wie erstarrt stehen. Dann wedelt er mit dem Schwanz und läuft auf Asimov zu.
„Halt mir bloß deinen Köter fern!“, schnarrt der Golem. „Ich habe keine Lust, dass er mich schon wieder vollsabbert!“
Doch statt wie sonst an Asimov hochzuspringen und wütend zu bellen, läuft Paul ganz brav und mit wedelndem Schwanz hinter ihm her, während er zu der Katze auf Asimovs Kopf hochblickt und leise winselt.
„Was ist denn mit dem los?“, wundert sich der Golem. „Ich dachte, wenigstens die Tiere in diesem Dorf wären vernünftig.“
Golina schließt die Tür und wischt den Rest des Liebestranks und die Scherben auf.
„Schade, das roch wirklich lecker“, sagt Nano.
„Stimmt“, gibt Primo ihm recht. „Andererseits, wenn das Gewürz von Ruuna stammt, ist es vielleicht besser, wenn wir es nicht in die Suppe tun. Man kann nie wissen, welche Nebenwirkungen ihre Tränke haben.“
Golina seufzt, wirft das Rindfleisch in den Topf, das Primo mitgebracht hat, und kocht einen ganz normalen Eintopf.
3. Anon
Fasziniert betrachtet Primo die Landkarte vor sich auf dem Tisch. Er erinnert sich, dass er selbst darauf zu sehen war, als er sie an der Meeresküste zum ersten Mal in der Hand hielt. Die Karte ist offenbar magisch. Doch jetzt ist kein heller Klecks zu sehen, der sich bewegen würde, wenn Primo umher geht. Das Dorf am Rand der Schlucht ist zu weit vom Küstenabschnitt mit den Ruinen entfernt, um noch auf der Karte eingezeichnet zu sein.
Was wohl an der Stelle vergraben liegt, die mit einem X gekennzeichnet ist? Primo würde es zu gern herausfinden. Doch er weiß, dass es Golina nicht recht wäre, wenn er an diesen unseligen Ort zurückkehren würde, an dem er fast gestorben wäre. Und auch ihm selbst ist ein bisschen mulmig bei dem Gedanken. Die Ertrunkenen waren wirklich schreckliche Gegner. Wenn ihn damals nicht Flippa, der Delfin, vor dem Ertrinken gerettet hätte, dann säße er jetzt nicht hier.
Trotzdem kann er nicht anders, als darüber nachzudenken, was an der Stelle mit dem X versteckt sein mag. Eine Truhe voller Smaragde vielleicht? Hoffentlich nicht – seit seinem Abenteuer in Utopia, der Stadt der Golems, hat Primo für Smaragde nicht mehr viel übrig. Viel besser wäre es, wenn dort eine wertvolle magische Rüstung vergraben wäre, die ihn unverwundbar machen würde, oder ein Zauberschwert vielleicht, mit dem er jeden Gegner besiegen könnte. Oder noch besser ein Zaubertrank, den er Golina heimlich ins Essen schütten könnte, damit sie wieder lieb wird. In letzter Zeit ist sie immer ziemlich schlecht gelaunt, nicht so wie früher, als sie nur Augen für ihn hatte.
„Primo! Ich rede mit dir!“
Er blickt von der Karte auf. Golina wirkt ziemlich wütend. Was sie wohl schon wieder hat?
„Was hast du gesagt, Schatz?“
„Ich habe gesagt: Kannst du mir bitte mit dem Abwasch helfen, statt die ganze Zeit nur auf diese blöde Karte zu starren? Und danach kümmere dich bitte darum, dass Nano seine Hausaufgaben macht!“
Bevor Primo antworten kann, ist draußen ein gellender Schrei zu hören: „Alarm! Alarm! Räuber greifen das Dorf an!“
Erschrocken springt Primo auf, zückt sein Schwert und stürmt aus dem Haus. Olum, der Fischer, kommt ihm vom Flussufer entgegengerannt.
„Räuber!“, schreit er. „Sie kommen! Rette sich wer kann! Alarm! Alarm!“
„Beruhige dich!“, ermahnt Primo ihn. „Wo hast du denn Räuber gesehen?“
„Auf der östlichen Wiese, jenseits des Flusses. Ich war gerade beim Angeln, als ich sie entdeckt habe.“
„Wie viele waren es?“
„Glaubst du etwa, ich wäre dageblieben, um sie zu zählen? Außerdem habe ich jetzt keine Zeit zum Plaudern. Ich muss Alarm schlagen!“
„Warte noch. Ich will mir die Sache erst einmal ansehen.“
„Du?“, fragt Olum. „Du willst es ganz allein mit einer Räuberbande aufnehmen?“
„Ich bin immerhin der Dorfbeschützer, und ...“
Doch Olum lässt ihn einfach stehen und rennt zu dem Platz vor der Kirche, wo die Glocke steht. Kurz darauf erfüllt lautes Gebimmel das Dorf.
Primo marschiert zum Flussufer. Als er sich der schmalen Brücke nähert, sieht er tatsächlich in der Ferne Gestalten, die sich dem Dorf nähern. Als er genauer hinsieht, erkennt er, dass es nur eine Gestalt in einer braunen Robe ist, die ein Lama mit einer Kiste auf dem Rücken hinter sich herzieht. Wie eine gefährliche Räuberbande sieht das nicht gerade aus.
„Was ist denn los, Papa?“, fragt Nano, der zusammen mit Golina aus dem Haus geeilt ist.
Als Primo sich umdreht, sieht er, dass auch die anderen Dorfbewohner von Olums Gebimmel aufgeschreckt wurden und sich in sicherem Abstand hinter ihm versammelt haben, offensichtlich hin- und hergerissen zwischen Neugier und Furcht.
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