1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Albert Muster fasste sich extrem kurz nach der Kopfreise. Normalerweise waren seine Einleitungen schon deutlich länger als sein gesamter Bericht. Besonders Andrea war erstaunt über die knappe Schilderung: „In der Übung ist Vieles, was ich nicht mehr brauche, verschwunden. Durch meinen Kopf sind Kugeln in Größe einer Erbse gerollt. Diese Kugeln haben alle unnötigen Dinge aufgesaugt. Jetzt ist mein Kopf wieder klar und Vieles, was ich nicht mehr wusste, ist mir eingefallen. Das war eine sehr hilfreiche Übung, durch die ich auch wacher geworden bin.“
„Die Berichte sind sehr unterschiedlich, so wie es sich anhörte, scheinen wir ganz verschiedene innere Vorstellungen zu entwickeln … was davon zu halten ist, ist mir noch recht unklar… wir sollten auf jeden Fall weiter experimentieren!“, kommentierte Andrea Muster-Caro, die als Psychologin gerne in der Metaposition verweilt.
„Verehrte Mitwirkende, ich finde, heute ist es schon sehr spät, lassen Sie uns zu Bett gehen, damit wir morgen fit sind für eine weitere Geschichte und danach für die Heimreise.“ Der Delfinmensch zuckte erneut. „Wir können uns ja am nächsten Wochenende ab Freitag-Mittag bis Sonntag wieder zu einem sBarcamp im Club-Maed treffen, um neue geistige Abenteuer einzuleiten“, meinte Frau Schaf.
Die anderen waren einverstanden und zogen sich in ihre Zimmer zurück.
Die Gesprächsrunde saß am Kaffeetisch und genoss bereits zum etwas später angesetzten Frühstück den famosen Kirsch-Streusel-Kuchen mit Schlagsahne, für den das Landhotel Kringel bekannt war, sowie frisch gebrühten Kaffee oder Tee nach Belieben.
Jeder der Anwesenden fühlte irgendwie Hoffnung, Vertrauen und Zuversicht, dass ihre Aufmerksamkeit seit den goldenen Kugeln von gestern irgendwie gewachsen war und dass sie ihre Umgebung präziser registrierten.
Albert Muster gähnte vor versammelter Mannschaft und schaute fragend in die Runde: „Wie ist das eigentlich mit den Sinnessystemen – den Fleck entdeckten ja schließlich unsere Augen, die ihn dann erst zum Gehirn gemeldet haben… müsste die Reinigung nicht schon viel früher beginnen… nämlich bei den Augen, nicht erst beim Gehirn?“, dann nahm ein paar Augentropfen, um die Trockenheit seiner Sehorgane zu lindern.
Hugo Kirchheim fügte hinzu. „Tun Sie Ihren Augen etwas Gutes, so sparen Sie sich die Tränen, obwohl diese ja häufig auch entlastend wirken können… Vielleicht ersparen Tränen auch die Augentropfen? Natürlich ist eine Unterscheidung von Sinnen und Gehirn auch etwas fragwürdig, weil die Augen sowie die Riechkolben der Nase entwicklungsgeschichtlich ja eigentlich Ausstülpungen des Gehirns sind. Genauer gesagt Ausstülpungen des Diencephalons. Deshalb werden sie auch als unechte Hirnnerven bezeichnet.“
„Herr Muster, ich denke, Sie haben Recht, indem Sie Ihren Augen etwas Gutes tun“, sprach Dr. Engström. „Ich selbst benutze immer wieder Ohren-Tropfen, weil es bei mir persönlich meist nicht die Augen sind, die Fehler entdecken. Ich mit meinen gut ausgebildeten Ohren bemerke viel häufiger Missklänge. Wenn jemand laut schreit, ist das fürchterlich für mich. Es geht so weit, dass ich regelrecht Angst bekomme und ich mich nicht mehr traue hochzublicken. Ich fühle mich auch tief verletzt, wenn mich jemand ‚dummer Esel nennt‘ - vielleicht weil ich nicht riechen konnte, was die andere Person wollte oder wenn ich mit meinen groben Hufen bei Begrüßungsritualen eher ungelenk wirke. Manchmal schmeckt mir auch nicht, was die anderen wollen und ich widerspreche. Ab und zu geht es gar nicht um mich. Ich bin schon irritiert bei disharmonischen Zwischentönen, wenn z.B. Menschen oder andere Wesen nicht einer Meinung sind und das verstecken wollen. Auch auf leise Dissonanzen reagiere ich sehr empfindlich. Da können Ohrentropfen mildernd wirken, obwohl sie ja die eigentliche Ursache nicht beseitigen. Dennoch bin ich von Zeit zu Zeit wirklich entmutigt und verunsichert und würde meine Sinne am liebsten ausschalten.“
Während Dr. Engström von seiner Empfindsamkeit oder Empfindlichkeit? berichtete warfen sich Albert und Andrea bedeutungsvolle Blicke zu. Er zog die Augenbrauen nach oben – sie schürzte die Lippen und atmete tief durch.
„Was hältst du denn von Ohrenstöpseln? Die bieten mehr Schutz und sorgen auch für ruhigen Schlaf!“, fragte Frau Schaf. Die anderen blieben stumm.
Lediglich der Delfinmensch hatte einen Moment seine Verunsicherung vergessen. Er fühlte sich erneut berufen und meldete sich zu Wort: „Dr. Engström, es ist Ihr gutes Recht, sich so zu äußern, doch ich gebe zu bedenken, dass es Ihnen viel mehr Sicherheit gäbe, ihre Sinne zu reinigen und zu schulen und sich wirklich um Ihre Bedürfnisse zu kümmern. Wie oft hörte ich schon die Äußerung: Er ist nicht bei Sinnen… er sitzt auf seinen Ohren… sie hatte keinen Riecher… sein Augenmerk war ganz woanders… sie streckte ihre Fühler in die falsche Richtung aus. Ich kann Ihnen nur raten: Reinigen Sie Ihre Sinne… auch dafür gibt es Geschichten oder Fantasiereisen, wie sie Manche nennen. Der Text dazu steht übrigens auch im Buch.“
Andrea stieß Albert mit dem Ellenbogen an und sprach flüsternd zu ihrem Mann: „Schatzi, hast du auch schon bemerkt, dass der Fleck mit ins Haus gekommen ist… schau mal an die Decke!“
Albert Muster entgegnete unwirsch: „Wir hatten ja bisher nur eine mehr oder minder förmliche morgendliche Begrüßung, gibt es hier denn überhaupt keinen Plan? Mich interessiert viel mehr der Tagesablauf – am besten schriftlich, damit ich mich darauf einstellen kann. Ich frage mich, wo bin ich hier nur gelandet?“
„Es sieht aus, als hätte er sich unserer Runde angeschlossen… als ob er dabei sein möchte, um nichts zu verpassen“, flüsterte Andrea erneut, „schau doch nur!“
Albert rollte die Augen und atmete tief durch.
„Ich bin schon sehr gespannt auf die vielgerühmte Bibliothek des Hauses und die beträchtliche Anzahl interessanter Bücher, die voller Geschichten und Erkenntnisse stecken, die nur darauf warten, gelesen zu werden, damit sie ihre Wirkung entfalten können. Ich liebe Bücher!“, tat Frau Schaf kund.
Alle nickten und erhoben sich zeitgleich von ihren Plätzen.
Die Kringel-Bibliothek gehörte zu den wenigen verbleibenden Bibliotheken im Land. Nachdem Likes generell aus politischen Gründen für literarische Werke der Sturm-und Drang-Zeit verboten worden waren und vom Kultusministerium ein Vorleseverbot für Märchen in Schulen erlassen worden war, gab es in nahezu allen europäischen Großstädten ein großes Bibliothekssterben. Auch der Neubau von High-Tech-Romantik-Museen trug seinen Teil zum Werteverlust von historischen Werken und damit verbunden natürlich auch deren Aufbewahrungsorten, den Bibliotheken, bei. Nicht einmal mehr der mit Büchern sehr gut ausgestattete rollende Volkshochschulbus, der bisher noch in Flockenberg Halt gemacht hatte, kam vorbei. Er fiel der totalen Landdigitalisierung zum Opfer. Deshalb entschloss sich Sebastian Kringel zu dieser außerordentlich mutigen Tat, dem Aufbau und Erhalt der physisch existierenden Kringel-Bibliothek für seine Gäste - natürlich gepaart mit modernster Digital-Technik.
Fast jeder Reisende hatte in seinen Räumlichkeiten irgendwann einmal ein mehr oder weniger verflecktes Buch zurückgelassen, weil es nicht mehr in den Koffer gepasst hatte. Sebastians geliebte Uroma hatte vor langer Zeit damit begonnen, diese Werke sorgfältig nach Jahrgängen in einem der weitläufigen Bootsschuppen am Traumschiffanleger aufzubewahren, für den Fall, dass sich nochmals jemand melden würde mit der Bitte um Rücksendung. So war im Laufe der Jahrzehnte das komplette Halbwissen der Menschheit liegengeblieben und ein riesiger Schatz entstanden, den Sebastian Kringel durch den Wegfall der Familienurlauber in den ehemaligen Mehrfamilienzimmern, die alle miteinander verbunden waren, unterbringen konnte.
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