Der erste Moment war immer der schönste. Jeden Tag aufs Neue. Wasser kräuselte sich in klitzekleinen Wellen rund um die niedlichen runden Zehen mit den knallig rot lackierten Nägeln. Sie glänzten im Licht. Kalt war es und warm zugleich, der Sand weich unter den Fußsohlen, die Luft frisch und mild. Die Brise versprach Energie und gute Laune. Die Morgensonne schickte ihre ersten, kitschigen Strahlen über den Berg. Harriet Brimm ließ sich Zeit und zelebrierte den Einstieg ins Meer wie ein Ritual. Das Wasser reichte ihr mit jedem Schritt etwas höher: die hübschen Waden entlang, über die Knie und die Oberschenkel. Bis es endlich die Bikinihose direkt zwischen ihren Beinen berührte. Der hellblaue Stoff sog sich voll und wurde dunkler. Sie spürte, wie ihre Scham feucht wurde, das Wasser stieg und schließlich ihr rundes Bäuchlein umspülte. Das Baby darin sollte keinen Schock bekommen, sondern an ihrer Freude teilhaben. Kurz nach Sonnenaufgang in der Santa Monica Bay zu schwimmen machte Harriet glücklich. Ihr erstes Kind durfte an diesem Glück von Anfang an teilhaben. Endlich glitt Harriet ganz ins Wasser und machte ein paar entschlossene Züge in die Bucht hinaus. Brustschwimmen hatte sie schon in der Schule gelernt; es fiel ihr nicht schwer. Mit geschlossenen Augen, knapp unter der Oberfläche gleitend, konnte sie die Strömung bei jeder Bewegung noch besser um sich spüren. Nach ein paar Minuten drehte sie sich auf den Rücken und ließ sich treiben, perfekt und anstrengungslos gehalten an der Grenze zwischen Wasser und Luft. Als sie zu frieren anfing, drehte sie sich zurück in die Bauchlage und begann ihr Training: Jeden Tag während der Schwangerschaft kraulen zu üben, das hatte sie sich vorgenommen, seit ihr Mann John es ihr letzte Saison beigebracht hatte. Bei ihm sah es wie schwebend, so leicht und selbstverständlich aus. Obwohl Harriet beim Luftholen oft Wasser in den Mund bekam, übte sie unverdrossen weiter. Jeden Tag ein wenig mehr, so ging das über Wochen. Sie war stolz auf sich und ihre Disziplin, denn die Anstrengung nahm schneller zu als ihr schwimmerisches Geschick. Kein Problem, ich bin ja schwanger‘, sagte sie sich. Bis sich eines Tages beim Schwimmen ihr Unterbauch so zusammenkrampfte, dass sie vor Schmerzen kaum noch den Kopf über dem Wasser halten konnte. Mit letzter Kraft schaffte sie es an Land, schleppte sich auf ihr Handtuch und hielt sich den Bauch. Sie weinte, bis sie einschlief, und kam nie mehr in die Bucht zurück.
Michael Lommel saß in einem dieser maroden alten Berliner Mercedes-Taxis, als ihm das erste Mal so richtig klar wurde, wie tief er in der Scheiße steckte. Hinter ihm lag ein langer Tag vollgepackt mit Arbeit. Die Verpflichtungen hatten alles Nachdenken über seine eigene Lage verhindert. Dafür traf ihn jetzt, um kurz vor elf Uhr abends, die Erkenntnis umso härter, in Schwierigkeiten zu stecken. In ernsthaften. Er fühlte sich schlagartig müde, elend. Ihm war kalt. Der Weg von Berlin Adlershof nach Tempelhof erschien endlos lang und zu kurz gleichzeitig. Die fröhliche Musik aus dem Radio des russischen Fahrers quälte ihn. Es war unmöglich, dabei einen klaren Gedanken zu fassen. Was würde er gleich gefragt werden? Was würde er antworten? Er versuchte, sich die Situation vorzustellen. Was? Wie bitte? Denken Sie bitte noch einmal nach. Was? Lommel hasste das Gedudel. Er verabscheute Fahrer, die mit einer Hand telefonierten und mit der anderen steuerten. Irgendwie steuerten, schalteten und blinkten. Oder auch nicht. Er verabscheute seinen Fahrer jetzt im Augenblick. Wie soll man nachdenken, wenn man jeden Moment gegen eine Ampel krachen kann? Denken Sie bitte noch einmal nach. Lommel hasste den stetigen, dünnen Berliner Regen draußen, echten Pissregen, und den kalten, feuchten Luftzug, der permanent ins Auto kroch. Warum war die Seitenscheibe vorne rechts nicht ganz zu? Warum mussten sich alle alten Mercedesgetriebe, praktisch also alle alten Taxis in Berlin, so durch die Gangwechsel quälen, mit Schlägen, als ob das Auto urplötzlich festgehalten würde und gleich darauf wieder ruckartig freikäme? Ob sich das Mercedes so gedacht hatte? Was? Was war die Frage? Denken Sie noch einmal nach. Welche Taktik hatte er sich doch gleich überlegt? Warum waren die Scheibenwischer nicht in Ordnung? Bitte? Sie quietschen? Beschwerden sind nicht im Fahrpreis inbegriffen. Berliner Taxifahrer hassen Beschwerden. Lommel hasste Berliner Taxifahrer. Lommel hasste es auch, von der Polizei nach Tempelhof bestellt worden zu sein. Das war jetzt eine gute halbe Stunde her. Vielleicht keine gute halbe Stunde, aber immerhin so lange. Und nicht abzulehnen. Er war dran. Jetzt. Das war das Ergebnis der letzten Monate. Alles hatte sich verändert, alles. Und jetzt war auch noch das öde Taxi zu bezahlen. „Kein Trinkgeld?“ „Nö. Nichts. Nicht für sone olle Schüssel.“ „A…“ „Idiot.“ Lommel drehte sich noch einmal um, bevor er die Polizeistation betrat. Vor ihm lag es: das lang gestreckte Gebäude des Flughafens Tempelhof. Durch die Wolke blauen, stinkenden Dieselqualms schaute er direkt auf den Ort, an dem alle seine Probleme angefangen hatten.
Rosalie Fechner hängte sich artig das hässliche graugrüne Teil um den Hals, steckte sich die Stöpsel in die Ohren und bestätigte den Soundcheck. „Ja, ich höre dich. Alles klar, Alter.“ Die Psychologiestudentin aus Frankenthal war die Erste im Institut, die verkabelt wurde. Sie fand das sehr cool. Hoffentlich ging es endlich los! Jetzt saß sie noch im tristen Flur auf einem alten kantigen Holzstuhl, wartete und schaute sich gelangweilt um. Der Boden vor ihr war großflächig gefliest, die Wände waren beige und dunkelgelb gestrichen, an der Decke hingen Neonröhren, soweit man blicken konnte. Dieser Geruch nach Putzmittel. Sonst nichts los, kein Mensch auf dem Gang. Gut so. Rosalie hatte keine großen Vorstellungen, was sie erwartete. Damit, sich nicht zu viel vorzustellen, war sie in ihrem Leben bisher immer am besten gefahren. ‚Das Leben besteht ohnehin aus einer immensen Serie von Zufällen‘, davon war sie überzeugt. ‚Es gibt keine Vorhersehung. Ordnung ist Zufall. Unordnung genauso.‘ Genaue Pläne konnten damit nur kollidieren. Zum Beispiel jetzt. Hauptsache war, immer anständig, aufrichtig und ehrlich zu bleiben. Kant galt. Egal in welcher Situation. Ehrlich dran bleiben, keine Ausflüchte! ‚Steh auf‘, tönte es plötzlich in ihren Kopfhörern. Die erste Instruktion! ‚Dreh dich nach rechts.‘ Rosalie gehorchte. ‚Renn!‘ Es war nicht schwierig, dem Folge zu leisten, bis sie an die erste Kurve des rechtwinkeligen Gebäudes kam. Sie stockte. Schlagartig spürte Rosalie einen Schmerz in ihren Ohren. „Autsch“, entfuhr es ihr. Ihr wurde warm in ihren Wintersachen. ‚Renn, habe ich gesagt. Kurve oder nicht: renn.‘ Rosalie krachte fast in eine Gruppe anderer Studenten, nachdem sie den Befehl umgesetzt hatte. Sie zuckte zur Entschuldigung kurz mit den Schultern. Dann ging es fast einmal ganz um die Etage. Sie kam ins Keuchen, ihre Haare flatterten und die Geräusche ihrer Stiefel hallten lange nach in den kahlen Gängen. Unauffällig war das jedenfalls nicht. ‚Stopp. Dreh dich um. Renne zurück.‘ Es war bescheuert, aber wohl nicht zu ändern. Diesmal machte sie einen Bogen um die Studenten. Sofort kam der Schmerz wieder. Sie schwitzte. ‚Stopp. „Rennen“ hatte ich gesagt. Nichts von wegen Umwegen und so.‘ Rosalie stand untätig und unschlüssig im Gang und atmete schwer. Die Studenten gingen vorbei, drehten sich nach ihr um und schüttelten verständnislos den Kopf. Dann ging es wieder los. Direkt zurück. Sie wurde über einen Gang ins Nachbarinstitut geschickt. Musste stehen. Und warten. Gefühlte fünf Minuten später kam der nächste Befehl. ‚Dreh dich um nach links, bis du eine Tür siehst. Gehe darauf zu. Bleibe davor stehen.‘ Rosalie hatte keine Ahnung, wo sie war. ‚Mach die Tür auf und frage laut, ob Justin Bieber da ist. Laut!‘ Rosalie zuckte. Ich will nicht stören. Niemanden stören. Sie war ein Typ, der ungern störte, egal wen. Ausgerechnet Justin Bieber. Gar nicht ihr Fall. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Auf einmal fuhr ihr ein heftiger Schmerz in den Kopf. „Aua!“ ‚Los jetzt. Aufmachen und rufen!‘ Rosalie machte einen kleinen Schritt vorwärts, legte die Hand auf die Klinke und zögerte. Sie war klatschnass geschwitzt und fühlte sich beschissen. Am liebsten wäre sie einfach abgehauen. Mein Gott, so ein Scheiß-Experiment. Aber selber schuld. An dieser Zwickmühle bin ich ja selber schuld. Wieso mache ich auch mit? ‚Jetzt aber los. Sonst verliere ich meine Geduld!‘ Diese Sprüche kannte sie von ihrer Mutter. Genau so. Danach setzte es meistens was – früher. Rosalie drückte langsam die Klinke herunter, öffnete die Tür und rief laut nach Justin Bieber.
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