Matilda war eine gütige Herrin. Und auch Ulrich behandelte seine Knechte und Waffenträger gut und gerecht. Die Menschen dankten es ihnen und erledigten bereitwillig ihre Arbeiten. Ywen war kein reiches Gut. Die Erträge auf den kargen, schieferdurchwachsenen Böden waren gering. Die freien Bauern, die die Felder in Erbpacht bearbeiteten, lieferten den zehnten Teil ihrer Ernte an den Gutsherrn ab, der ihnen im Gegenzug dazu Schutz und im Kriegsfall Unterschlupf gewährte. Aber es war oft nicht genug und auch die Familie des Lehnsherrn musste hin und wieder den Gürtel enger schnallen.
Missmutig ließ sich Rudger auf einem Schemel in der Nähe des Feuers nieder und starrte in die Flammen. Er wusste selbst, dass er Anselm unrecht getan hatte. Doch kam er sich hier wie ein Bittsteller vor, der anderen auf der Tasche lag. Vielleicht hatte der Mönch ja recht. Der Gedanke, es ihm gleich zu tun und nach Zschillen zu gehen, um dem Deutschherrenorden beizutreten, gefiel ihm zusehends. Er würde sich wohl bei seinem jungen Freund entschuldigen müssen.
Nach einer Weile gesellte sich Valten zu ihm. “Glaub mir, mein Freund. Auch mir legt sich das alles hier aufs Gemüt“, begann er. „Ich vermisse unser Training im Kreis der Brüder, einen ordentlichen Schlagabtausch, und immer die Bereitschaft dazu, zu einem richtigen Kampf gegen die Ungläubigen geholt zu werden. Ja, Rudger. All das vermisse ich.“ Er sah seinen Freund eindringlich an. „Aber beschimpfe ich deshalb meine Freunde?“, fragte er. Seine Stimme hatte einen scharfen Ton angenommen. „Anselm ist mir meistens auf die Nerven gegangen. Aber dir ist er ein echter Freund. Das hat er nicht verdient. Du bist nur sauer, dass er selbst mal eine Entscheidung getroffen hat, ohne dich vorher um Rat zu fragen. Denk mal drüber nach.“ Valten erhob sich. Er ließ seine Hand schwer auf Rudgers Schulter sinken und drückte kurz zu. Dann ging er zurück zu den anderen, zu denen sich auch der junge Mönch gesellt hatte.
Rudger verspürte einen Knoten im Magen, Übelkeit stieg in ihm auf. Er atmete tief durch. Was hatte er nur angerichtet? Wieso verhielt er sich so? Keiner dieser Menschen hier war ihm jemals unfreundlich gegenübergetreten. Aber die Tatsache, untätig herumsitzen zu müssen, machte ihn ungeduldig. Nach einer Weile erhob er sich von seinem Schemel und ging langsam auf die Gruppe seiner Freunde zu. Vor Anselm blieb er stehen. „Was kann ich tun, damit du mir vergibst?“, fragte er mit etwas heiserer Stimme.
Der Mönch erhob sich sichtlich gerührt. Er wollte alles – nur nicht mit seinem besten Freund im Streit liegen. Dennoch, Rudger hatte ihm sehr unrecht getan. Auch wenn er selbst zugeben musste, dass seine Geheimniskrämerei dem Freund gegenüber eine Kränkung gewesen war.
„Wir haben wohl beide nicht unseren besten Tag gehabt, Rudger“, sagte er mit Bedauern in der Stimme. „Ich hätte es dir sagen sollen, dass ich nach Zschillen will. Deine Mutter wusste es. Aber irgendwie hatte ich Angst, dass du mich nicht weggehen lassen würdest.“
„Und was sagst du dazu, wenn wir zusammen hingehen?“, meinte Rudger unvermittelt. Anselm schaute überrascht auf.
„Wann hast du dir das ausgedacht?“, fragten Endres und Valten zugleich. Jorge starrte seinen Freund nur wortlos an.
„Nein, Freunde“, verteidigte sich Rudger. „Ich habe nichts vor euch verheimlicht.“ Ein kurzer Seitenblick auf Anselm ließ diesen schuldbewusst nach unten zu Boden schauen. „Der Gedanke kam mir gerade eben. Vielleicht hat Anselm recht. Wir haben hier nichts zu tun, sind nur unnötige Esser. Mein Vater braucht uns eigentlich nicht. Was spricht denn dagegen, in den Deutschen Orden einzutreten? Den Templerorden wird es nicht mehr lange geben, seien wir doch mal ehrlich. Ich glaube nicht mehr daran.“
„Vielleicht“, meinte Valten. „Aber irgendwie gefällt es mir auch, kein Ordensritter zu sein.“ Er grinste etwas verlegen. „Klar, ein Erbe habe ich nicht zu erwarten. Aber es gibt immer irgendwelche Herren, die fähige Kämpfer brauchen. Ich glaube, da stehen meine Chancen gar nicht so schlecht.“
Endres und Jorge nickten zustimmend. Denn in ihrem Innersten hatten auch sie mit dem Ordensleben abgeschlossen.
„Du ebenfalls, Jorge?“, fragte Rudger erstaunt. „Es war doch dein ganzer Lebensinhalt, ein Ritter Christi zu sein.“
„Das dachte ich auch, Rudger. „Ich bin mir noch nicht sicher, was ich tun werde und wohin ich gehe. Wer weiß, was das Schicksal bestimmt.“
„Endres?“ Rudger schaute seinen Freund eindringlich an. Endres zuckte nur mit den Schultern. Dann schweifte sein Blick heimlich zu Heske, die mit ihrer Mutter vorm Kamin saß. Rudger war das Interesse, das sein Freund an seiner Schwester zeigte, nicht entgangen, und ihn beschlich das Gefühl, zu wissen, warum Endres sich nicht durchringen konnte, mit ihnen wegzugehen.
„Nun gut, wir müssen das ja nicht heute Abend klären. Aber ich denke, mein Entschluss steht fest. Ich werde mit Anselm nach Zschillen gehen.“
Ulrich, der zu den jungen Rittern getreten war, schaute seinen Sohn nachdenklich an. „Bist du sicher, dass du das wirklich willst. Oder ist es nur eine Trotzreaktion auf alles, was vorgefallen ist?“
Rudger schüttelte den Kopf. „Nein Vater, ich bin mir meiner Sache eigentlich sehr sicher. Es müsste schon etwas sehr Unvorhergesehenes passieren, um mich von meinem Entschluss abzubringen.“ Er lächelte kurz. „Aber hier in Ywen ... Nichts für ungut, Vater, aber was soll sich hier schon groß ereignen. Eines Tages wird Arnald den Hof übernehmen. Wenn er sich überhaupt dafür interessiert. Im Moment scheint ihm das Lotterleben mit Heinrich von Schellenberg mehr zuzusagen, als dir hier zur Hand zu gehen.“ Rudger verzog schmerzlich das Gesicht. „Doch du hast auch noch Michel. Der wird schneller erwachsen werden, als du denkst.“
„Siehst du, Rudger“, antwortete sein Vater, und tiefe Traurigkeit zeigte sich auf seinem Gesicht. „Deinem älteren Bruder ist es doch eigentlich egal, was aus uns hier wird. Sonst wäre er hier und würde sich um das Wohl der Menschen in Ywen sorgen.“
Verzweifelt starrte Rudger Ulrich an, doch dieser wusste, dass der Unmut seines Sohnes nicht ihm, sondern dem älteren Bruder galt.
„Und deshalb soll ich hierbleiben Vater?“, fragte er ungläubig. „Das geht nicht. Arnald ist dein Erbe, für mich ist hier kein Platz. Ich habe schon vor langer Zeit meine Bestimmung gefunden, als ihr mich zur Ausbildung nach Frankenhausen gegeben habt. Ich war noch ein Knabe, fernab der Heimat. Glaubt mir, Vater, damals fühlte ich mich von meiner Familie verraten.“ Rudgers Vater öffnete den Mund, um Einspruch zu erheben. „Nein, lasst mich ausreden, Vater. Heute sehe ich das anders. Ihr selbst seid niemals von hier weggegangen. Großvater hat Euch nie irgendwo in der Fremde zum Ritter ausbilden lassen. Ich verstehe es, dass Euer ganzer Stolz darin liegt, einen Templer als Sohn zu haben. Auch wenn Ihr das Schwert trefflich zu handhaben wisst“, setzte er versöhnlich lächelnd hinzu. „Und nachdem für mich gesorgt war“ fuhr er fort, „habt Ihr Arnald nach Schellenberg zu Heinrich geschickt, damit er wenigstens die Knappenausbildung erhält, die Euch versagt blieb. Nur Heinrichs Vermittlung hat er es zu verdanken, dass Markgraf Friedrich ihn zum Ritter geschlagen hat. Es gab keine Schlacht, kein Gefecht, wo er sich besonders auszeichnen konnte.“ Er hielt kurz inne, bevor er weitersprach. „Das wurmt ihn mächtig, und deshalb treibt er sich mit Hencke und seinen Spießgesellen herum. Der Schellenberger ist sein Vorbild, der ist wild und verwegen, alles das, was Arnald nie sein wird. Nur, dass er sich da mit Sicherheit den falschen ausgesucht hat, dem er nacheifern sollte.“
Ulrich nickte zustimmend, doch konnte er seine tiefe Enttäuschung über den ältesten Sohn nicht verbergen.
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