»Versuch mal, den Leuten den Sex wegzunehmen. Uns in die Klapse zu sperren wäre noch das Mindeste, was uns blühen würde. Wenn das funktionieren soll, dann bestenfalls in einem ganz kleinen Gebiet oder einem winzigen Land. Im Vatikan vielleicht, die hatten doch schon immer was gegen Sex. Bhutan, mit ihrem Gross Happiness Product. So was.« Benjamin wischte sich die Stirn, obwohl es nicht heiß war. Charlotte sah ihn ruhig mit gesenktem und leicht geneigtem Kopf an.
»Eine Pazifik-Insel, die ohnehin wegen des steigenden Meeresspiegels vom Untergang bedroht ist, wenn die Leute noch Geld dafür kriegen. Und falls dann tatsächlich jemand mitmachen würde, und wir das tatsächlich irgendwo ausprobieren dürfen: Wie willst du Mikroben stoppen? Die kennen keine Kreis- und Ländergrenzen.« Benjamin zog den Mund zur Seite und zog hörbar mit einem kurzen Zug Luft durch die Nase ein.
Charlotte schürzte die Lippen und schnalzte, als sie den Mund wieder freigab. »Tja. Da sagst du was. Müssen wir’s halt heimlich machen«, sagte sie pragmatisch. »Du kannst die Leute nur zu ihrem Glück zwingen, in der Masse sind wir stumpf und blöd. Besser, als unterzugehen.«
»Vielleicht kann man das ja abstrakt und anonym in der wissenschaftlichen Community diskutieren«, schlug Benjamin vor.
»Dann hast Du das drei Tage später auf einer halben Million Twitter-Nachrichten und wer weiß wo noch, und hunderttausend aufgeregte Gegner wollen dich lynchen.«
»Echt? Ich weiß ja nicht.«
»Doch. Sicher.« Er sah Charlotte in die Augen. Ja, sie war sicher. Das überzeugte ihn.
»Na gut, vielleicht stimmt das. Aber können wir wirklich stellvertretend für alle entscheiden? Irgendwie traue ich mir das nicht zu.«
Er zupfte sich mit Daumen und Zeigefinger am Nasenflügel, als ob dort etwas klebte. »Eigentlich ist es doch immer meine Maxime gewesen, nicht einzugreifen, nichts zu unternehmen. Die Natur regelt das selbst am besten. Das ewige Managen und Eingreifen, das ist es doch in erster Linie, was den Planeten zerstört. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was ich will. Wenn du die richtige Haltung hast, ändert sich alles von allein zum Guten, Charlie. Wir sind zu invasiv.«
Charlotte sah ihn an. So ein großer Kerl, und dabei so scheu und schüchtern.
»Zu der richtigen Haltung kommen wir noch. Wir müssen was tun, Zen. Von allein dreht sich das Rad nicht zurück.« Sie lehnte sich vor und sah ihm in die zögernden Augen.
»Du weißt doch, wie die breite Masse ist. Plebiszite haben noch nie wirklich jemanden geholfen, oder? Die Vernunft regiert nicht, sondern der Wunsch nach vollen Bäuchen und einem gesicherten Umfeld. Red doch einfach noch mal mit einem Freund darüber, einem Vertrauten.«
»Dann müsste ich ein paar Tage weg. Mein Bruder käme infrage. Der lebt auf einer Insel vor Cornwall.«
»Dann mach das, wenn es wichtig für dich ist«, sagte Charlotte und legte ihm ihre beiden Beine über seinen rechten Schenkel, sich dabei im Sessel zurücklehnend, die Hände im Schoß.
Benjamin mochte die einengende Geste; es war ein schöner Kontakt. Er nickte. Genau das würde er machen. Ein paar Tage konnte er immer weg, er musste im Institut nur ein paar Dinge veranlassen. Das konnte er morgen machen. Übermorgen konnte er dann seinen Bruder besuchen und mit ihm reden.
»Lass uns lieber noch mal darüber reden, wie das technisch gehen soll«, schlug Charlotte vor. »Irgendwie müssen wir ja die genetischen Instruktionen von deinen Wolken-Bakterien in den weiblichen Körper kriegen.«
Benjamin fühlte sich nach der beigelegten Spannung mit Charlie erschöpft, vielleicht war das auch nur die Spätwirkung des Alkohols.
»Weißt du was, es war ein langer Tag. Lass uns morgen weiterreden, ja? Ich bin müde.« Benjamin konnte ein Gähnen nicht unterdrücken, angesteckt von seinen eigenen Worten.
Charlotte lächelte freundlich und undurchsichtig, wie Mona Lisa, fand Benjamin.
»Schön.« Sie erhob sich und zog Benjamin an den Händen aus seinem Sessel. »Dann gehen wir jetzt im Bett kuscheln, du müder Krieger. Du kannst mir gern beim Ausziehen helfen. Aber unsere Höschen behalten wir an, und komm mir nicht auf dumme Gedanken.«
Benjamin nahm sie in den Arm und legte seinen Kopf neben ihren. Dann glitten ihre Wangen sacht aneinander vorbei, im gleichen Tempo, mit demselben ruhigen Wunsch, und Charlotte und Benjamin küssten sich zum ersten Mal seit den paar Tagen, die sie sich nun kannten, richtig, lang und voller Gefühl, nicht als Vorbereitung für einen nächsten Schritt. Nicht als Belohnung oder Bestechung, nicht als eine Fortsetzung der Kommunikation mit anderen Mitteln. Sie küssten sich, weil sie sich küssen wollten.
Ein paar Minuten später kam Benjamin dazu, sein Geschenk auspacken zu dürfen. Es war ihm nicht einmal mehr wichtig.
Samstagmorgen
Ben wunderte sich, wie gut er geschlafen hatte, in diesem fremden Bett, zum zweiten Mal. Diesmal nicht sturzbetrunken wie beim ersten Mal, an das er sich kaum und gar nicht gern erinnerte.
Bis auf eine kleine Tabuzone hatten Charlotte und er sich überall in aller Ruhe erkundet und waren schließlich eng umschlungen eingeschlafen. Benjamin war glücklich, dass alles so war, wie es war, und dass es gut war. Charlotte und er waren zufrieden und kein bisschen enttäuscht. Früher hätte er nicht warten können und wäre über eine Verweigerung stinksauer geworden.
Charlotte machte Frühstück. Sie hatte vor ihm geduscht, er hatte sich noch ein wenig gestreckt und es genossen, in ihrem duftenden Bett zu liegen. Seit anderthalb Jahren war er zum ersten Mal wieder mit einer Frau im Bett gewesen. Nicht so, wie er gedacht oder befürchtet hatte, sondern völlig entspannt, und auch nicht mit irgendeiner Vertreterin der Gattung Weib. Sondern mit Charlotte.
Sie hatten den Vormittag für sich reserviert. Am nächsten Tag wollte Benjamin nach England. Er glaubte zwar nicht, dass ein Gespräch mit seinem Bruder Alexander ihn von allen moralischen und ethischen Skrupeln und Bedenken befreien würde, aber eine zweite Meinung, die eines Unbeteiligten, wollte er auf alle Fälle hören, bevor er begann, über direkte Aktionen nachzudenken. Er wollte mit seinem Bruder nicht über das Vorhaben direkt reden, nur über Ethik und vielleicht über die Liebe.
Charlotte wollte später ins Institut, sie hatte zwar am Tag davor viel geschafft, aber ein Teil ihrer eigentlichen Arbeit war liegen geblieben. Sie musste aufholen. Außerdem hatte sie noch ein paar gute Einfälle, die sie weiterverfolgen wollte.
Benjamin hatte vom Bäcker nebenan frische Brötchen besorgt, nebst zwei Nussecken mit Schokolade an jeder der drei Ecken, einem Baguette und einem frischen Brot, für alle Fälle. Willst du jetzt bei mir einziehen, hatte Charlotte ihn angesichts seines Einkaufs angestrahlt. Sie hatte Kaffee, Spiegeleier und Rösti gemacht und einen Quinoa-Salat aufgetaut. Dazu hatte sie französische Konfitüre aus dem Restaurant ihres Vaters auf den Tisch gestellt. Lange hatte Benjamin das Frühstück nicht mehr so gut geschmeckt. Aber dann ging der Morgen nicht so weiter, wie er erwartet hatte.
»Hör zu«, sagte Charlotte zu ihm. »Ich habe keine Wäsche mehr, die du bügeln könntest. Das lief letztes Mal ja schon ganz gut. Du bist jetzt bereit für den nächsten Schritt. Mach zur Abwechslung bitte mal den Abwasch.«
»Hä?« Benjamin kriegte den Mund nicht mehr zu. »Du hast doch eine Spülmaschine.«
»Während du abwäschst, mit der Hand, reden wir weiter. Ist fast genauso gut wie Bügeln.«
Einer musste sowieso abwaschen, dachte Benjamin, und eine WG-Diskussion wollte er hier nicht anfangen. Er durfte kaum erwarten, dass Charlotte nun in die Rolle einer Hausfrau schlüpfen würde, nachdem sie miteinander im Bett gelegen hatten. Das wäre ein absolut bescheuerter Gedanke gewesen. Er musste den Abwasch machen, na klar. »Okay, gerne.«
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