Die Chance, es ihrer Großmutter und Mutter nachzutun, war riesig. Anders als viele andere Frauen, denen ihre großen Brüste peinlich waren, liebte sie ihre. Ein Teil ihres Lebens, auf das sie ungern verzichten wollte.
Natürlich war der Krebs genetisch bedingt, mit der Größe hatte er nichts zu tun. Sogar Männer konnten ihn bekommen.
Sie kannte vier Gen-Abschnitte, die mit dem Eintreten der Menses zu tun hatten, und vierzehn für das Eintreten der Menopause. Sie glaubte auch zu wissen, wie sie beides beeinflussen konnte. LIN28B hieß eines der Gene, das man abschalten könnte.
Es sorgte für das Wachstum der Brüste, das Eintreten der Periode und auch für das Wachsen des Schamhaares bei Jungen. Heute rasierte sich ja sowieso jeder, dachte sie.
Wenn man dieses Gen abschaltete, würden die Mädchen im Nymphenstadium verbleiben, und ohne dieses Gen brauchten sich die Männer wenigstens ihre faltigen Säcke nicht mehr abzuschaben.
In gewisser Weise würden sie alle jung bleiben.
Vor allem würde sich das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, massiv verringern. Vielleicht sollte sie der Idee mehr Aufmerksamkeit schenken, in ihrem ganz eigenen Sinn. Der Bus hielt, sie musste ihre Sitznachbarin durchlassen und setzte sich ans Fenster.
Sie bemerkte, dass sie trotz ihrer Kommentare weiter über Zens Ideen nachdachte.
Es gab weitere Möglichkeiten. Viele Sportlerinnen litten an hypothalamischer Amenorrhö, kriegten also ihre Tage nicht mehr. Die waren meist klapperdürr und hatten einen sehr niedrigen Fettanteil im Body Mass Index. Manche Läuferinnen bekamen seit vielen Jahren keine Periode mehr und hatten allergrößte Schwierigkeiten, schwanger zu werden. Sexuelle Lust empfanden sie dabei durchaus noch, wenn auch weniger als andere, aber sie waren deshalb nicht asexuell, wie sie wusste.
Das Leben war also auch für eine unfruchtbare Frau gar nicht so eingeschränkt. War das ein Ansatz?
Vielleicht war das der Weg. Dafür gab es genetische Schalter.
Wie war das andersherum: wenn die Frauen nur die Lust verlören? Charlotte dachte an ein paar ihrer vielen Freundinnen, die wenig Lust auf und selten bis nie Spaß am Sex hatten. Zwei davon spürten beim Verkehr absolut gar nichts, nur die mechanische Belastung. Zwei davon ekelten sich vor vaginalem Sex und vor dem Gewese, das die Männer dabei machten. Gevögelt wurden sie von ihren Männern und Freunden trotzdem, wenngleich selten, und schwanger würden sie auch werden. Das würde also nicht funktionieren, außer wenn die Männer ihre Lust ebenfalls verlieren würden. Aber das war ein so stark verankerter Trieb, dagegen würde sich die Natur erfolgreich wehren. Keine Chance.
Immerhin, bei Frauen griff die Medizin schon lange in den Hormonhaushalt ein, mit der Pille. Eine automatische Pille durch Beregnung mit Plasmiden? Na ja. Daran mochte sie immer noch nicht recht glauben. Aber davon hatte Benjamin mehr Ahnung. Vielleicht hatte er ja doch recht.
Sie hätte lieber etwas gegen Krieg und Aggression unternommen, wenn sie schon die Werkzeuge dafür besaßen.
Auf der anderen Seite stand die große Wahrscheinlichkeit, früher oder später an Brustkrebs zu erkranken. Dabei konnte sie ihre Kenntnisse einbringen.
Sie dachte an den Inhalt ihrer Tasche. Die hatten es gut, die Männer. Jeden Tag bildeten sie Millionen von Spermien neu, Hunderte von Millionen. Sie musste mit ihrem sparsamen Vorrat an Eiern auskommen. Um die Hunderttausend bei Geburt, davon blieben vielleicht ein paar Hundert übrig. Die wurden Monat für Monat verbraucht, und dann war es vorbei mit der Fruchtbarkeit. Die meisten Follikel reiften nicht und wurden ausgespült, in manchen Fällen starben sie einfach ab. Fälle von Follikel-Apoptose und Atresie, dem spontanen Absterben und dem Abgang von Eiern, gab es nicht nur bei Haustieren in der Massentierhaltung. Wenn der Vorrat an Eiern verbraucht war, setzte unweigerlich die Menopause ein.
Auch eine Möglichkeit?
Sie berührte nachdenklich ihre Brust. Sie war schon länger nicht mehr bei der Voruntersuchung gewesen. Eine verringerte Länge der Fertilitätsperiode, das hatte was!
Ein späteres Einsetzen von Menarche und ein früheres der Menopause, dann blieb den Frauen zumindest der Krebs erspart. Der weibliche Körper musste viel Energie aufwenden, um sich empfängnisbereit zu halten, sehr viel.
Mit dieser Energie lässt sich sicher auch was Besseres anfangen, dachte sie. Forschung, Kreativität.
Es war nicht so, dass die Menschheit akut vom Untergang bedroht war. Das traf auf alle anderen Arten viel eher zu, da hatte Benjamin wirklich recht. Weniger Menschen, dafür gesunde und kluge Menschen, die nicht nur blind ihren Impulsen und Trieben hinterherliefen. Frauen könnten physisch stärker werden, vielleicht sogar noch länger leben, nicht nur die sechs Jahre, die sie den Männern ohnehin voraushatten. Charlotte spürte eine gewisse Vorfreude in sich aufsteigen.
Vor ihr saß ein fettes Mädchen, vielleicht zwölf Jahre alt. Speckrollen über den Hüften, schwere, sackförmige Brüste, säulenförmige Oberschenkel, die sie gar nicht mehr zusammen bekam, schon in dem zarten Alter. Gott, dachte sie, da bin ich doch gut dran.
Was wäre, wenn man statt in den Hormonhaushalt in den Fettstoffwechsel eingreifen würde? Das wäre besser für die Gesundheit. Schlanke und sportliche Mädchen würden um einiges später sexuell bereit und aktiv werden. Periode mit achtundzwanzig. Menopause mit zweiunddreißig, nur vier Jahre empfängnisbereit. Solche Frauen wären immer noch schlank und rank und kräftig und intelligent, den Männern in keiner Weise unterlegen. Und ohne Brustkrebs. Sehr wenige Kinder, pro Paar nur eins oder keines. Die Menschheit würde sich schnell gesundschrumpfen.
Sie war da und stieg aus.
Im Institut kratzte sie mit einem Zahnstocher eine Probe aus der Tasse und legte sie unter ihr Mikroskop. Na bitte, etwa ein Drittel der kleinen Kaulquappen lebte noch. Sie schabte den Rest aus, streifte ihn mit dem Holzspatel in ein Glasröhrchen, beschriftete es – Nummer, Eigentum Dr. Faber, bitte nicht entnehmen – und versenkte das Röhrchen nach den notwendigen Vorbereitungen in den mit flüssigem Stickstoff gefüllten Behälter für Bullensperma.
Der Füllstand war zwar absolut erbärmlich, verglichen mit dem in den anderen Röhrchen, aber wer würde schon darauf achten, dachte sie. Sie schloss den Behälter und wandte sich ihrem Computer zu. Es gab einiges nachzulesen und zu tun.
Hoffentlich versuchte niemand, mit dem Inhalt dieser Röhre eine Kuh zu befruchten, dachte sie, dann bekämen sie einen Minotaurus mit Benjamins Gesicht. Sie lachte bei dem Gedanken laut auf und hatte ihre gute Laune wieder.
Sie summte ein Liedchen aus ihrer Kindheit.
Ein paar Stunden lehnte sie sich zurück, geschafft, aber zufrieden mit den Ergebnissen ihrer regulären Arbeit, die sie in der halben Zeit fertiggestellt hatte.
Sie griff zu ihrem Handy. Benjamin war fast sofort dran. Er war bereits zurück in Göttingen, seiner Mutter ging es gut, sie war nur ein wenig einsam gewesen.
»Tut mir leid wegen heute Morgen«, sagte sie. »Hast du nicht Lust, heute Abend bei mir vorbei zu kommen? Ich habe dir wohl auf die Seele getreten, vorhin. Ich möchte das wieder gut machen, und ich würde dich wirklich gern sehen.«
Benjamin sagte ja, ein wenig verwundert und selbst auch im Entschuldigungsmodus.
Charlotte kramte ihre Sachen zusammen und bestellte sich ein Taxi. Sie wollte vor ihm in der Theaterstraße sein und hatte es plötzlich fürchterlich eilig.
Das Dilemma
»Wir stehen vor einem ethischen Dilemma«, erläuterte Ben ihr, als sie nach einer linkischen Begrüßung beide wieder auf ihren alten Plätzen saßen.
»Wenn wir, ich sag mal, stellvertretend für die Menschheit ein so riesiges Projekt mit so enormen Folgen vom Zaun brechen, dürfen wir das nicht ohne Zustimmung der Allgemeinheit machen. Und genau die werden wir niemals kriegen.« Er atmete tief durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus.
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