»Wir wissen doch, wie Krebs ausgelöst werden kann. Da muss man halt aufpassen.« Er wusste genau so gut wie sie, dass das in dieser einfachen Form nicht stimmte. Gerade bei genetischen und vor allem epigenetischen Eingriffen konnten krebsartige Prozesse ausgelöst werden. Ihre auf einmal so negative Ansicht reizte ihn zum Widerspruch. »Das lässt sich doch locker umgehen.«
»Du weißt genauso gut wie ich, dass das nicht stimmt.« Jetzt war auch Charlotte verstimmt. Wieso versteifte sich der Kerl plötzlich auf einen so unhaltbaren Standpunkt? »Wenn du beim Genom was falsch machst, provozierst du alle möglichen krankhaften Veränderungen. Vor allem Krebs. Das weißt du doch.«
Benjamin mochte keine Belehrungen, aber er hasste Streit. »Na ja, wahrscheinlich hast du recht. Vielleicht ist das wirklich alles Quatsch.« Er aß lustlos weiter, obwohl er Hunger hatte und es ihm schmeckte.
»Ich will nur nicht, dass wir uns in etwas verrennen und unsere Zeit für etwas verschwenden, über das wir uns nachher ärgern«, sagte Charlotte versöhnlich und legte ihm eine Hand auf den Unterarm. Benjamin hob den Arm, um weitere Nudeln aufzudrehen. Charlotte zog ihre Hand wieder zurück.
Warum streiten wir uns jetzt wegen dieser dämlichen Schnapsidee, fragte sich Benjamin. Mehr war es doch wirklich nicht. »Lass uns mal über was anderes reden. An was arbeitest du eigentlich am Max-Planck-Institut?«
Charlotte nahm ihr Besteck wieder auf. »Tja, eher am genauen Gegenteil von dem, was wir hier so planen.«
Sie lachte auf, sie fand das lustig, aber Benjamin ließ sich nicht anstecken. »An Problemen der Fertilität, vor allem bei Haustieren, und natürlich wie immer bei Mäusen. Vor allem bei Kühen und Säuen gibt es immer mehr Probleme mit der Fruchtbarkeit, liegt wahrscheinlich an der industriellen Tierhaltung. Die Natur wehrt sich dagegen.«
»Ha.« Benjamin identifizierte eines seiner Lieblingsthemen. »Genau das, was Natur und Umwelt zerstört. Ein Viertel aller Treibhausgase kommt aus der industriellen Tierhaltung. Kuhpupse und Rülpser.«
Charlotte sah beim letzten Wort auf. »Ich weiß. Können wir gern in Ruhe und ausführlich besprechen, Benjamin. Du wolltest doch gerade wissen, was ich mache.«
Gott, warum dieser belehrende Ton, fragte sich Benjamin. Was war denn nur los?
»Na ja, sorry, wenn ich wieder damit anfange«, lachte Charlotte bitter. »Aber das ist die gleiche Geschichte, nur andersrum. Wir untersuchen, warum Säugetiere unfruchtbar werden, und wir versuchen, das zu ändern. Zum Positiven. Wir wollen mehr freundliche, fruchtbare Kühe, die uns gern noch mehr von ihrem Fleisch und ihrer Milch abgeben. Etwas Positives.«
Benjamin hörte zu. Aha. Und was er sich da ausgedacht hatte, war wohl etwas Negatives. Etwas Böses.
Sie erzählte weiter. Er hörte nur mit halbem Ohr zu.
Das Essen hatte Benjamin müde gemacht. Die Tablette und die Nachwirkungen des Alkohols taten ein Übriges. Dazu kam diese blöde Missstimmung mit Charlotte.
Heute war nicht sein Tag. Die große Nähe, die er zu ihr verspürt hatte, war wie weggeblasen. Er stand auf, nahm die beiden Teller und das Besteck und brachte alles in die Küche. »Du, ich glaube, wir lassen es für heute dabei. Ich werde mich zu Haus noch ein wenig hinlegen. Meiner Mutter geht’s nicht so gut. Ich fahr da heute mal vorbei.«
»Lass, ich mach das schon«, sagte Charlotte, obwohl Benjamin schon mit dem Tablett auf dem Weg war. »Deine Mutter? Wo musst du denn hin?«
»Nicht so weit. Bovenden.« Benjamin nahm seine Jacke, die über dem Stuhl hing, gab ihr zwei Küsschen auf die Wangen und wandte sich zum Gehen. Eigentlich war ihm eher zum Heulen.
»Ich melde mich dann wieder. Ciao.«
Charlotte brachte ihn zur Tür und hielt sie ihm auf. »Okay. Pass auf dich auf, Zen.« Sie schloss die Tür hinter ihm. Warum zum Teufel konnte sie bloß ihre Zunge nicht besser im Zaum halten? Und warum war dieser große Kerl nur so eine verdammte Mimose?
Benjamin ging nach Haus. Vermutlich hatte er ihr am Abend vorher nur noch Quatsch erzählt oder sie beleidigt. Oder schlimmer, angegrapscht.
Er ärgerte sich über seinen Filmriss. Wahrscheinlich hatte er alles verbockt.
In seiner Wohnung angekommen, legte er sich für eine Weile auf sein Sofa. Die Verstimmung mit Charlotte machte ihm mehr zu schaffen, als er gedacht hätte.
Er rollte sich auf dem Sofa zusammen. Eine Stunde später wichen seine schwarzen Gedanken einem unruhigen Schlaf.
*
Charlotte brachte die gebügelte Wäsche zu ihrem Schrank und legte sie weg. Du blöde Kuh, dachte sie, das war dumm gelaufen, aber warum war der Typ auch so empfindlich?
Erst kotzte er ihr die Straße und die Treppe voll, ließ sich sauber machen und ins Bett bringen wie ein Riesenbaby und schnarchte dann die ganze Nacht durch. Sie hatte kaum ein Auge zugemacht. Sie hatte ihm seine beschmutzten Sachen gewaschen, obwohl sie sich vor der Kotze ekelte, und er? Er ließ sich bekochen und bedienen, und dann rastete er auch noch aus, wenn sie berechtigte Bedenken vorbrachte. Absolut berechtigte Bedenken, berechtigter ging es gar nicht.
Trotzdem, warum musste sie ihm so auf seine verkaterte Seele treten? Blöde Kuh.
Sie machte sich eine Tasse Kaffee, klein, stark, schwarz, und setzte sich an den Tisch. Ihr war eine andere Szene vom Ende der letzten Nacht eingefallen.
Charlotte ging hinüber zum Kühlschrank und sah ins Eisfach. Was sie nachts hineingestellt hatte, war jetzt natürlich alles eingetrocknet und gefroren. Vielleicht ist da noch Leben drin, unschuldiges Leben, dachte sie. Von dem er nichts wusste. Vielleicht war das noch zu retten. Sie hätte das ins Klo kippen sollen, aber jetzt oblag der Inhalt ihres Zahnputzbechers ihrer Verantwortung.
Das Institut hatte eine Samenbank, eingerichtet für die Nutztier-Forschung. Charlotte packte die Tasse in eine Kühltasche aus dem Supermarkt und machte sich auf den Weg. Sie hatte freitags sowieso noch im Institut zu tun. Jetzt tat ihr Benjamin schon wieder leid. Warum hatte sie ihn nur so runtergemacht? Dabei war ein Gedanke, der ihr während des Gespräches gekommen war, gar nicht so abwegig. Sie dachte an ihre Familiengeschichte und fasste sich unwillkürlich an den Busen.
Ihre Großmutter war an Brustkrebs gestorben. Ihre Mutter hatte aus dem gleichen Grund beide Brüste verloren, schöne, große Brüste wie ihre eigenen, und litt seitdem an massiven Depressionen. Sie selbst hatte fast alle der bekannten BR-Gensequenzen, die Brustkrebs auslösten.
Dieses Schicksal wollte sie nicht erleiden. Das war ein weiterer Grund für die Wahl ihres Studiums gewesen.
Sie hatte sich die Brüste längst verkleinern wollen, obwohl sie sehr an ihnen hing. Sie musste lachen; umgekehrt stimmte der Satz zum Glück noch nicht. Auch mit einer Verkleinerung stiegen ihre Chancen, dem Monster zu entgehen. Sie hatte es nur wieder und wieder aufgeschoben, aus Lebensfreude und weil sie sich nicht trennen mochte, obwohl ihr ihre Orthopädin dazu geraten hatte. Das Gewicht der Dinger wäre zu groß für ihre Wirbelsäule, sie müsste mit einer Verkrümmung rechnen.
Andererseits war sie stolz auf das, was sie hatte. Sie wusste, dass sie damit Macht ausübte, auch wenn sie das niemals zugeben würde. Klar, sie war entschlossen, sie verkleinern zu lassen, bald. Rechtzeitig. Ein wenig Zeit würde schon noch sein. So lange es ging, wollte sie sich noch an diesem Geschenk erfreuen.
Sie hatte das Problem eingehend studiert.
Es gab einen eindeutigen biologischen Zusammenhang zwischen Östrogen-Spiegel, der Länge der Fruchtbarkeitsperiode bei Frauen und einigen Arten von Brustkrebs.
Mädchen bekamen heute manchmal schon mit neun, zehn Jahren ihre Menses, der Rekord lag inzwischen bei sechs Jahren. Ein gerade eingeschultes Mädchen.
Je länger die fruchtbare Phase im Leben einer Frau anhielt, desto größer war die Chance, Brustkrebs zu bekommen. Das Eintreten der Periode hing mit dem Körperfett-Anteil zusammen, wie Charlotte wusste. Je fetter die Mädchen waren, desto früher. Die kleinen Dicken erwischte es als Erstes. Sie selbst hatte ihre Periode mit elf bekommen. Wirklich mager durfte sie sich nicht nennen.
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