„So, da bin ich wieder“, atmete sie erleichtert auf und nahm Josefine gegenüber auf einem Stuhl Platz. „Mein Vater ist mit seinem derzeitigen Leben extrem unzufrieden. Er hasst es, auf andere Personen angewiesen zu sein, das macht ihn so verbittert“, versuchte sie sein garstiges Verhalten zu rechtfertigen.
„Er wird sich an mich gewöhnen, dessen bin ich sicher“, gab Josefine zuversichtlich zu verstehen. „Ich habe schon mit wesentlich schwierigeren Menschen als mit ihrem Vater zusammengearbeitet.“
„Oh, dann bin ich aber beruhigt, dass Sie offensichtlich wissen, auf was Sie sich da einlassen. Insofern fällt mir ehrlich gesagt ein riesiger Stein vom Herzen. Zumal mein Bekannter und ich in den kommenden drei Wochen unseren alljährlichen Urlaub in der Türkei verbringen und nicht ständig erreichbar sein werden.“ Sichtlich verlegen schob sie ihre Tasse hin und her. „Ich liebe meinen Vater auf meine ganz persönliche Weise, möchte mich allerdings nicht zu seiner Sklavin machen, wenn Sie verstehen was ich meine. Deshalb ist es mir auch wichtig, ihn während meiner Abwesenheit gut versorgt zu wissen.“ Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: „Es bleibt doch bei unserer Absprache, dass Sie gleich morgen Ihren Dienst antreten können, oder?“
„Ja, es bleibt dabei“, erwiderte Josefine und drückte herzlich die Hand der attraktiven
Frau. „Und machen Sie sich bitte keine Sorgen, ich habe durchaus Verständnis für Ihre Situation und den Wunsch, den Vater so lange wie möglich in seiner gewohnten Umgebung zu lassen. Bitte zeigen Sie mir einfach alles Erforderliche und instruieren mich über die Gewohnheiten Ihres Vaters, damit ich über das wesentliche Wissen verfüge, um ihm und seinen Anforderungen gerecht zu werden. Alles andere können wir nach Ihrer Rückkehr aus ihrem Urlaub besprechen.“
„Genauso werden wir es handhaben“, nickte Karla. „Hier, das ist Ihr Lohn für den ersten Monat, es sind genau dreizehnhundert Euro.“ Mit der rechten Hand schob sie Josefine einen Umschlag zu und ließ einen weiteren folgen. „In diesem Kuvert sind eintausend Euro Haushaltsgeld für meinen Vater und für Sie. Ich gehe davon aus, dass es für die Zeit unserer Abwesenheit reichen sollte. Wenn nicht, gibt es im Wohnzimmer noch einen Sekretär, in welchem sich in der obersten Schublade eine Geldkassette mit einem
sogenannten Notgroschen befindet für den Fall, dass etwas Unvorhergesehenes eintreten sollte. Ich vertraue Ihnen, Frau Decker. Ihre Reverenzen sind ausgezeichnet, also was will ich mehr?“, lachte sie und sah unverhohlen zur Wanduhr über der Küchentür. „Um Himmels willen, es ist ja schon gleich sechzehn Uhr, jetzt muss ich mich aber sputen, damit ich spätestens um siebzehn Uhr wieder zu Hause bin. Die Geschäfte, Sie verstehen? Also los, ich führe Sie rasch durch die Räumlichkeiten und überreiche Ihnen dabei einen kompletten Satz Schlüssel.“
„Eine Bitte hätte ich noch“, warf Josefine hastig ein. „Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich schon jetzt gleich hier einziehen, alles Notwendige befindet sich draußen in meinem Wagen.“
„Lieber heute als morgen“, lachte Karla erfreut und sprang vom Stuhl auf.
„Entschuldigen Sie bitte meine Direktheit, aber geht das denn so einfach? Gibt es niemanden, mit dem Sie sich absprechen
müssen?“ Beinahe ungläubig schüttelte sie ihre rote Haarpracht.
„Ich bin alleinstehend“, flüsterte Josefine.
„Auf mich wartet keiner mehr.“ Ihr Gesicht wirkte blasser als zuvor.
„Oh, entschuldigen Sie bitte, ich wollte nicht indiskret werden.“ Sichtlich beschämt senkte Karla den Kopf und hüstelte betreten.
„Ist schon in Ordnung“, erwiderte Josefine und berührte den Arm der anderen Frau.
„Mich würde noch interessieren, was Ihr Vater früher beruflich gemacht hat.“
„Er war Bahnbeamter, dort drüben auf dem kleinen Bahnhof.“ Mit dem ausgestreckten Zeigefinger deutete Karla auf das Fenster.
„Sein Beruf füllte ihn total aus. Er war alles in einer Person, Fahrkartenverkäufer, Schrankenwärter, Auskunft, Putzfrau … und er liebte Kinder über alles.“ Plötzlich ging ein Strahlen über ihr Gesicht. „Früher war das noch anders als heute, da nahmen sich die Menschen mehr Zeit füreinander und
die Kinder konnten ungeniert herumtollen. Wir alle waren wie eine große Familie und mein Vater hatte stets ein offenes Ohr für seine Kundschaft und die Probleme der Jugendlichen.“ Sie schien in angenehmen Erinnerungen zu schwelgen. „Aber warum fragen Sie das?“
„Aus purer Neugier“, lächelte Josefine. „Ich betreue gerne Menschen, die Gutes im Leben bewirkt haben und sich für nichts zu schade waren.“
„Welch ein Glück für uns, dass Sie sich ausgerechnet auf meine Annonce hin beworben haben.“ Karla machte einen gelösten und zuversichtlichen Eindruck. „Es wird sicher nicht lange dauern und Vater wird Ihnen seine ganze Lebensgeschichte erzählen.“
„Das will ich doch wohl hoffen, sonst muss ich eben ein bisschen nachhelfen“, scherzte Josefine und drohte spielerisch mit dem Zeigefinger.
„Und sollten Sie ärztliche Unterstützung benötigen, dann wenden Sie sich einfach an unsere Hausärztin Frau Doktor Wilinski. Sie kennt Vaters Krankengeschichte ganz genau und ist sehr zuverlässig in Punkto Hausbesuche auch außerhalb der Sprechzeiten. Ihre Telefonnummer finden Sie in der Küche an der Pin-Wand.
Samstag, 3. Mai 2014, 05:00 Uhr, der Tyrann
Josefine erwachte von einem seltsamen Geräusch. Verschlafen rieb sie sich die Augen und richtete ihren Oberkörper auf. Der gestrige Tag hatte sie geschlaucht und ihr viel abverlangt. Die neuen Eindrücke mussten erst einmal verdaut werden. Der alte Mann hatte kaum ein Wort mit ihr gesprochen, sondern sie überwiegend misstrauisch beobachtet. Sobald sie an ihm vorüberging oder nach seinen Wünschen fragte, starrte er nur wortlos an ihr vorbei.
Die Liste der Tochter hatte Josefine sorgfältig studiert, um gewisse Regelmäßigkeiten und Gewohnheiten einhalten zu können. Den Medikamentenplan ihres Patienten gedachte sie zu einem späteren Zeitpunkt intensiv in Augenschein zu nehmen. Seine Tablettenbox war schließlich schon für eine Woche fertig gepackt und somit brauchte
Josefine nur die Uhrzeiten der Verabreichung einhalten. Zwischendurch hatte das die Sozialstation erledigt, denn irgendwer musste während Karlas Abwesenheit ja auf ihn achten.
Ludwig Habicht war nicht nur herzkrank, sondern er litt auch an hohem Blutdruck und dem sogenannten Restless-Legs- Syndrom, einer neurologischen Erkrankung, bei der in erster Linie die Beine unkontrolliert zuckten. Desweiteren machte ihm seine Harninkontinenz sehr zu schaffen, die er jedoch unter den Tisch kehren wollte und darauf bestanden hatte, dass seine Pflegerin es nicht erfuhr.
Leise erhob sich Josefine von ihrem Bett und trat barfuß an das Fenster, von dem aus man den Bahnhof und das Abstellgleis sehen konnte, welches einen ausrangierten Bahnwaggon aus Urzeiten beherbergte. Ein mulmiges Gefühl beschlich sie bei der Vorstellung, dass die damaligen Vorkommnisse immer mehr zum Vorschein kamen und sich nur noch selten verdrängen ließen. Seit ihrer Reha im letzten Jahr
ließen die durchlebten Ereignisse sie einfach nicht mehr los. Während sie darüber nachdachte, was damals alles passiert war, riss ein Schrei sie aus ihren Gedanken zurück in die Gegenwart, er kam aus der unteren Etage. Erschrocken fuhr Josefine zusammen, während ihre Hand rein mechanisch zum Herzen griff.
„Josef!“, rief Ludwig Habicht ungehalten und unterstrich seinen Unmut durch laute Klopfzeichen unter die Zimmerdecke. „Wo bleiben Sie denn? Es ist helllichter Tag und ich will endlich frühstücken.“
„Ich komme gleich!“, antwortete Josefine und warf einen Blick auf ihren Wecker. So ein Blödmann, dachte sie, es ist gerade kurz nach fünf. Der will mich doch bloß schikanieren, aber warte nur mein lieber Freund, ab heute geht es anders herum, da spielen wir ein gemeinsames Spiel nach meinen Regeln. Außer mir ist niemand mehr da, der deine Launen ertragen muss. Wollen doch mal sehen, wie du dich am Ende des Abends gebärdest, wenn ich dir meine Grundsätze dargelegt habe. Im Bad
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