Ihre Eltern, also Mama und Papa Siebenborn, hatten ihr dazu geraten. „Kind, da hast du was Eigenes!“ Alle Experten sagten zudem, kaufen Sie Immobilien. Und zwar JETZT!“ Die Zinsen waren noch immer tief, tief im Keller - und billiger konnte das Geld ja kaum noch werden.
Das sah Lina auch ziemlich schnell ein und schlug auch prompt zu, als die Besitzerin ihr ein unwiderstehliches Angebot unterbreitet hatte. Die alte Dame, die mittlerweile auf Teneriffa ihren Lebensabend verbrachte, war schlicht und ergreifend begeistert von Lina und der Art, wie sie das Traditions-Kaffeehaus in Bad Salzhausen wieder zum Leben erweckt hatte. Wahrscheinlich hatte Herr Murmelmann, der Anwalt und Notar, dem die betagte Dame vertraute, sie immer schön auf dem Laufenden gehalten.
Eines Tages lag eine Postkarte aus Puerto de la Cruz zwischen den vielen Rechnungen und Werbeblättern in Linas Briefkasten. Frau Schauer hatte in echt krakeliger Schrift geschrieben:
„ Meine liebe Frau Siebenborn,
ganz herzliche Grüße aus dem sonnigen Teneriffa sendet Ihnen
Frau Schauer.
P.S: Sie sollten umgehend einen Termin mit Herrn Rechtsanwalt Murmelmann vereinbaren. Die Sterne stehen gut für die Chance Ihres Lebens…“
Das war alles gewesen. Lina hatte zuerst einen Schreck bekommen. Was wollte die alte Dame ihr damit sagen? Aber dann ging alles ganz schnell. Und jetzt war Lina eine echte Kaffeehausbesitzerin. Und eine Wohnung (mit Balkon) nannte sie auch ihr Eigen. Und einen Garten, direkt angrenzend an den wunderschönen Kurpark. Plus Parkplätze, die waren auch wichtig! Naja, das war nun nicht gerade ausschlaggebend. Aber immerhin. Es gehörte alles IHR, Lina Siebenborn. Nicht schlecht für eine ehemalige „Tippse“ mit Mietwohnung in Frankfurt-Bornheim, oder?
Doch noch immer wusste sie nichts mit dem angebrochenen Silvesterabend anzufangen. Also zappte sie sich eher lustlos auch durchs Programm, vermutlich genauso wie Jan im gleichen Moment. Was für eine soziale Armut! Jeder saß allein zuhause auf der Couch, niemand wollte mehr heutzutage Kompromisse schließen, weder beim Fernsehprogramm noch beim Schlafen. Das moderne Individuum besteht zu jeder Zeit auf seinen gewohnten Komfort.
Und eigentlich musste Lina sich eingestehen: Sie war im Prinzip nicht anders als Jan. Auch sie hätte an diesem Abend nicht gerne bei ihm übernachtet. Die Zeiten wild zerrütteter Laken war ohnehin vorüber, aus den stürmischen Nächten der Vergangenheit war irgendwas Schnelllebiges geworden, eine Art bettmäßige „5-Minuten-Terrine“ – will heißen, in fünf Minuten fertig, allerdings nicht ganz so heiß. Auch deshalb wollte sie lieber in ihren vier Wänden bleiben, in ihrem eigenen Bettchen schlafen (die Matratze hatte einen speziellen Zwischenhärtegrad, extra für sie angefertigt!) und morgens wie gewohnt den ersten Blick auf den so friedlichen Kurpark werfen, der jeden Tag anders, jedoch immer gleich schön aussah.
In Schotten wäre ihr Blick stattdessen zuerst hinüber zu Tonjas Hexenhäuschen gegangen. Fachwerk am frühen Morgen und die Tatsache, dass Jan einfach lieber in ihrer Nähe sein wollte. Da konnte frau schon mal die Lust auf den oder die sonst übliche(n) Latte am Morgen verlieren. Aber das sollten wir jetzt nicht vertiefen.
Wie immer liefen im Fernsehen Wiederholungen: alte Tatorts, noch ältere Pilchers, hier und da ein Quiz (Menschen, Tiere, Gesundheit, Länder, Millionen), Reisemagazine (fast alle schon gesehen, mehrfach), Reportagen aus der Zeit vor, während oder nach dem Zweiten Weltkrieg, wissenschaftliche Szenarien von einer Erde ohne Menschen, einer Menschheit ohne Wasser oder das neueste zum Thema Fett. „Fett“ lief immer irgendwo, ein schier unerschöpfliches Thema. Aber Lina wollte mit Fett nichts mehr zu tun haben. Weder im realen Dasein, also auf ihren Hüften oder sonstwo, noch im virtuellen Bereich. Vom Fett hatte sie gründlich die Schnauze voll. Genau wie vom Fernsehprogramm.
Das Ganze war für Lina fast so etwas wie das allabendlich grüßende Murmeltier. Immer dasselbe. Da war ja der Anwalt Murmelmann noch aufregender. Und der war schon über siebzig! Dieses Programm ersetzte jede Baldrian-Pille. Mittlerweile konnte Lina diesen Reich-Ranicki gut verstehen. „Ich nehme diesen Preis nicht an!“ Jawoll, recht hat er gehabt. Jetzt hatte sie es auch begriffen.
Ein Griff ins DVD-Regal und sie tauchte ab. Nach Kenia. Mehr als hundert Jahre zurück, genau ins Jahr 1913.
Aber eigentlich begann alles Dänemark. Oh ja, Jenseits von Afrika ist einfach der beste Film aller Zeiten. Zumindest für Lina. Die konnte ihn fast schon auswendig mitsprechen. Alle Dialoge. Und zum Schluss fing sie immer an derselben Stelle an zu schniefen. „Das hätte Denis gefallen…“, als die Löwen auf seinem Grab eine Art Rastplatz gefunden hatten, von dem aus sie die Steppe und die Herden überblicken konnten… Es ging jedes Mal wie auf Knopfdruck – und musste wohl eine Art cineastische Konditionierung ihrer Tränendrüsen sein. Das rettete ihr wenigstens ein bisschen den so frustig begonnenen Abend. Doch an Jan musste sie die ganze Zeit denken. Unwillkürlich. Gerade, weil der Film ja im Grunde nicht nur ein Kolonial-Epos, sondern auch eine unbeschreiblich schön-dramatische Liebesgeschichte ist. Dagegen war ihr kleinbürgerliches Dasein geradezu farblos, von ihrer schalen Beziehungskiste ganz zu schweigen. Vonwegen zwei Männer, zwischen denen sie stehen könnte. Sie hatte nicht mal einen richtig an ihrer Seite. Und darüber war sie schon richtig sauer geworden.
Aber ging es dieser Karen Christiansen Dinesen, also der Baronin von Blixen, vor hundert Jahren nicht ähnlich wie ihr heute? Sie wollte auch nur jemanden, der zu ihr hielt, jemanden ganz für sich alleine. Aber dieser „Jemand“ hatte damals auch schon andere Interessen. Großwildjagd! Um nur ein Beispiel zu nennen.
Hatte sich etwa nicht viel geändert seit 1913?
Liefen Frauen noch immer Männern hinterher, die ihrerseits nur zwei Dinge wollten? Erstens: Nähe, wann SIE es brauchten. Zweitens: Abstand, wenn SIE es brauchten.
Hatten wir nichts dazu gelernt? Blieb alles so, wie es immer schon war? War das am Ende genetisch festgelegt und alle Müh‘ vergebens? Oder hatte sich die Natur all das nur ausgedacht, um die Art zu erhalten? Ein bisschen Liebe? Und kein bisschen Frieden zwischen den Geschlechtern? Zumindest nicht, solange noch kein Nachwuchs in Sicht war. Danach sah die Sache doch ganz anders aus. Die Frauen waren beschäftigt mit der Aufzucht der Brut, die Männer hatten ihr Soll vorerst erfüllt und konnten sich wieder anderen Dingen zuwenden (ein Objekt der Begierde suchen, um das nächste Soll zu erfüllen…).
Man könnte es auch wieder mit der Großwildjagd vergleichen.
Naja, wenigstens war diese Karen Blixen Baronin geworden und hatte einen ordentlichen Titel, wenn es schon mit der Liebe nicht so recht klappen wollte. Lina jedoch war nicht einmal „Frau Johannsen“ geworden. Und würde es vermutlich niemals werden. Dabei hatte sie in ihren kühnsten Träumen noch gedacht, heiße Fleischwurst mit Kakao wäre nicht das einzige, was Jan ihr zur Wiederversöhnung versprochen hätte. Aber Fehlanzeige. Das Einzige, was Jan ihr wirklich in Aussicht gestellt hatte, war heiße Luft in Formvollendung. Nichts als heiße Luft.
Auch Papa und Mama Siebenborn waren nicht sonderlich begeistert gewesen, dass auf die Versöhnung (und insbesondere nachdem der „Fischkopp“ auf einmal zu Reichtum und Berühmtheit gelangt war) nicht schon bald der obligatorische Heiratsantrag gefolgt war. Und das, nachdem Lina diesen armen Maler jahrelang durchgefüttert hatte…
Im mittelalterlichen Büdingen war niemand darüber „amused“. Dabei hatte Papa Siebenborn sogar noch öfter ausdrücklich „ Jan “ zu seinem vermeintlichen Schwiegersohn in spe gesagt. Laut und deutlich, damit klar war, dass er ihn endlich als Beinahe-Familienmitglied akzeptiert hatte. Vorher war er nämlich nur der „Fischkopp“ für ihn gewesen, der Hamburger Künstler, der immer klamm war und sich von seinem Töchterchen aushalten ließ. Aber nachdem im ersten und auch im zweiten Frühjahr nach der besagten Versöhnung kein Antrag erfolgt war, kehrte auch Papa Siebenborn wieder zu seiner alten Gewohnheit zurück. Und hatte Jan Johannsen aus Hamburg-Eppendorf wieder zum Fischkopp werden lassen. Seitdem war das Fischbeil wieder ausgegraben…
Читать дальше