Niemals wurde er laut oder gestikulierte wild wie sonst, nein, er war unter den Augen von Gisela Johannsen immer formvollendet und galant. Doch wehe, wenn er wieder die Oberhand hatte in seinem kleinen Fachwerkstädtchen, da fühlte er sich wie der „King von der Altstadt“ – und als hätte er das Erbe von Opa Abbel, dem vormaligen Hausbesitzer, bis ins letzte Detail angetreten, saß er von O – O (Ostern bis Oktober, wie beim Reifenwechsel) auf der alten Bank vor seinem Häuschen, rauchte Zigarillos und philosophierte mit jedermann, der sich gerne mit dem berühmtesten Sohn der Stadt austauschen wollte. Und es waren nicht gerade wenige, die sich gerne in seinem Dunstkreis bewegten. Schließlich war Jan Johannsen bekannt wie ein bunter Hund. Keine Woche verging, ohne dass man ihn auf irgendeinem Kanal im Fernsehen sehen konnte. Irgendwo tauchte er immer auf, der Vorzeige-Vogelsberger. Lina wartete insgeheim nur darauf, dass ihm irgendwann Vulkanier-Ohren wuchsen, denn er war durch und durch auf Du mit dem Vulkangestein des „Vuulsberchs“, wie Einheimische – und zu denen zählte sich der Herr ja mittlerweile – liebevoll ihr Hausgebirge auf Gut-Platt nannten. Und solche Ohren hätten sich sicher auch gewinnbringend vermarkten lassen. Wenn da nicht im Vorfeld schon die Sache mit dem verbrannten Ohr gewesen wäre…
Ja, die Marketing-Maschine ratterte seit dem Blitzschlag auf dem Keltenberg unaufhörlich – und die Hausbank hatte Jan ganz schnell wieder gewechselt, denn in der näheren Umgebung sollte doch niemand wissen, was für Summen da unglaublicherweise inzwischen auf seinem Konto aufgelaufen waren. Die Zahl war mittlerweile im höheren sechsstelligen Bereich – und immer öfter wurde der Promi aus Oberhessen zu bankinternen Veranstaltungen, hochinteressanten Vorträgen, Häppchen und Sekt oder „Meet & Greet“ mit irgendeinem Finanzguru eingeladen. Ganz intime Kreise, man war sozusagen als „Hochfinanz“ unter sich, ganz verlockende neue Anlagemöglichkeiten, ganz geheime Strategien, die man angeblich nirgendwo nachlesen konnte.
„Sichern Sie Ihr Geld außerhalb der EU, und zwar jetzt!!! Wer weiß, was noch auf uns alle zukommt, wenn Brüssel wieder Geld braucht – oder Athen, um es mal beim Namen zu nennen – und, Herrschaften, der Staat greift bei IHNEN, den Leistungsträgern der Gesellschaft, den Säulen, auf denen der Erfolg von weiten Teilen der Bevölkerung gegründet ist, sehr verehrte Damen und Herren, ZU ALLERERST ZU! Deshalb, handeln Sie sofort, und zwar jetzt!“ Das war nicht ohne Folgen geblieben. Selbst Lina war schon ganz nervös geworden und hatte in einem Anfall von Panik ihr eigens erwirtschaftetes Vermögen erst einmal in Betongold umgesetzt, sprich, sie hatte investiert. Nach all den Schauermärchen, die Jan immer erzählt hatte, wenn er gerade mal wieder von so einem Vortragsabend gekommen war…
Aber das waren für Lina heute Abend nur Sorgen von vorgestern. Erst einmal musste sie realisieren, dass es wohl ein einsamer Jahreswechsel werden würde. Welcome 2015?
Na, sie wusste nicht so recht.
Jan, Jan, Jan: Ick hör‘ dir trapsen, wa?, würde eine Berlinerin da kurzerhand kommentieren. So ganz lupenrein war die Sache nicht. Noch vor ein paar Monate wäre er bei dickstem Nebel zu ihr ins Bettchen gehechtet. Wetterwarnungen, Eis und Schnee? Die Straßen vielleicht sogar gesperrt? Ei, null Problemo, Jan ist immer zur Stelle. Wer einen Blitzschlag überlebt hat, der lässt sich doch nicht von so einer blöden Wettervorhersage aufhalten, wenn er mit seiner Liebsten zusammen sein kann? Das wäre noch der typische Satz dazu gewesen. Aber nun? Ebbe in der Liebesgrotte. Kein Engagement – nicht mal am letzten Feiertag des Jahres.
Wahrscheinlich lag er jetzt auf seinem Mega-Sofa (nagelneu, überdimensional groß und richtig teuer!), mit Asta im Schlepptau, seiner treuen Hündin, die er auch von Opa Abbel geerbt hatte. Und ziemlich wahrscheinlich zappte er wahllos durchs Programm und verkostete zeitgleich neue Weine. Multitasking á la Jan. Am Ende betrachtete er das Ganze offiziell auch noch als Arbeit… So Linas Vermutung am frühen Silvesterabend. Wie waren noch seine Worte beim Telefonat gewesen? „Du, ich bleibe lieber bei mir zuhause. Ich brauche mal ‘ne dicke Mütze Schlaf. Der viele Stress mit den Malkursen, die ganzen Auftragsarbeiten. Du weißt doch… Und dann noch die Straßenverhältnisse. Blitzeis, da ist nicht mit zu spaßen, gell? Du bist doch nicht böse???“
Ja, sie wusste. Er war ein Mimösjen geblieben – auch nach seinem überlebten Blitzschlag. Und trotz seiner Popularität als Van Gogh vom Keltenberg. Fast keine Talkshow, in der er nicht schon eingeladen war, keine Zeitung, keine Zeitschrift, die nicht über ihn berichtet hatten, das Internet hatte tausende, ach was, abertausende Einträge über ihn. Den smarten Künstler, der einst arm war, aussah wie Vincent persönlich, mit Strohhut und Staffelei auf irgendwelchen Bergen unterwegs war und den Anschein erweckt hatte, als wäre er irgendwie aus der Zeit gefallen. Das hatte den Wendepunkt in seinem armseligen, depressiven Künstlerdasein markiert. Seitdem rollte der Rubel sehr, sehr fleißig. Nur das verkokelte Ohr wollte nicht so recht, wie er es gerne gehabt hätte. Tja, alles hat eben seinen Preis.
„Schlafen kannst du doch auch hier. Bei mir!“, hatte Lina noch eingeworfen. Aber es war nichts zu machen gewesen.
Dabei hatte alles so schön angefangen. Wieder angefangen.
Mit Fleischwurst und Kakao und einem Silvester, wie es schöner kein Hollywood-Regisseur hinbekommen hätte. Hach!
Und nun schlief er immer öfter wieder in Schotten. Auch am Wochenende, nun sogar an Silvester. Der Trubel im Café war ihm zuviel. Zu viele Menschen, zu viel Kaffee (den vertrug er anscheinend nicht mehr - neuerdings), zu viel Lina. Er wollte lieber seine Ruhe. Irgendwie war die Luft heraus. Insgeheim vermutete sie schon eine Affäre mit einer seiner vielen attraktiven Malschülerinnen, die nach Schotten gepilgert kamen wie die Katholischen zu einem Wallfahrtsort.
Sie überlegte, was sie mit dem freien Silvesterabend nun anfangen sollte. Die Mädels waren sicher nicht so spontan, ein außerordentliches Flaggentreffen einzuberufen, nur weil der Basalt-Fischkopp, eine extra für Jan erfundene neue Kombination aus Fischkopp (Nordlicht) und Basaltkopp (eher unflexibler Oberhesse), mal wieder lustlos war und das Alleinsein vorzog. Obwohl, alleine war er ja nicht. Er hatte Asta zum Kuscheln – und reden konnte er jederzeit mit Tonja, sie wohnte ja direkt gegenüber im Heilpraktiker-Hexenhäuschen in Schotten, dem kleinen Vulkanstädtchen, in dem Jan nun vollends heimisch geworden war und wo er sein Atelier, die Malschule und den Weinhandel betrieb.
Und seit Frühsommer demonstrativ auch noch seinen eigenen Apfelwein (Etikett: Der Schotten-Schoppe! – Nichts für Kleinkarierte) an die Leute brachte. Geschäftstüchtig war er wirklich.
Lina war jedenfalls nie mehr in die Verlegenheit gekommen, ihm finanziell nochmals unter die Arme greifen zu müssen. Wahrscheinlich könnte sie eher ihn anpumpen, wenn es mal nicht mehr so goldgrubenmäßig lief mit dem Klatsch & Tratsch . Aber noch war das zum Glück nicht der Fall. Ihr Café im schönen Kurort Bad Salzhausen lief mehr als bombig. Über Langeweile oder Flaute konnte sie nicht klagen. Die beiden Perlen, ihre treuen Helferinnen in Dienstmädchentracht, waren auch mehr im Einsatz, als ihnen voraussichtlich lieb war. „Teilzeit“ konnte man das schon lange nicht mehr nennen. Die Chefin hoffte inständig, dass die zwei Fleißigen sie nicht eines Tages im Stich lassen und sich nur noch Heim, Herd und Kind widmen würden. Solche bezaubernden Wesen wie Anette und Amelie gab es bestimmt auf der ganzen weiten Welt nicht mehr, dessen war sich Lina sicher.
Andererseits würden ihr ein paar Gänge weniger auch nicht schaden. Seit ihrer Entlassung beim „HansaFra“-Konzern, wo man sie doch recht unhöflich vor die Tür gesetzt hatte, und der darauffolgenden Entscheidung, ein eigenes Café zu eröffnen, hatte sie keine drei Tag mehr am Stück frei gehabt. So ein Pensum war ihr sonst als Chefsekretärin eher fremd gewesen. Geregelte Arbeitszeiten, das Balsam des Angestelltendaseins… Aber davon war nun keine Rede mehr. Davon konnte sie jetzt nur noch träumen. Selbst außerhalb der Öffnungszeiten musste sie ja immer organisieren, backen, Cremes schlagen, Obst schnibbeln, die Buchhaltung vorbereiten, Termine beim Steuerberater vereinbaren, zum Steuerberater fahren, sich mit den Steuerberater persönlich treffen, in die Metro düsen, Nachschub holen, Anzeigen schalten, die Internetseite aktuell halten, und so weiter und so fort. Aber meckern wollte sie auch nicht. Ihr Kontostand hatte sich nach der Eröffnung schnell in mehr als angenehme Höhen bewegt, so dass die Entscheidung, das Kaffeehaus samt Wohnung zu kaufen, nicht lange hatte auf sich warten lassen.
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